In den USA droht das Ende für das Recht auf Abtreibung. Der Supreme Court will eine Entscheidung von 1973 rückgängig machen. Wie wichtig es ist, dass Frauen legal und sicher abtreiben können, zeigt der Spielfilm „Niemals Selten Manchmal Immer“. Er könnte nicht aktueller sein.
Eine Kleinstadt in Pennsylvania. Die Häuserfassaden sind ausgeblichen und bröckeln, die größte Attraktion ist der Talentwettbewerb an der High-School. Autumn (Sidney Flanigan) ist 17 und ihr ist schon seit ein paar Wochen kotzübel. „Geh doch zu unserem Arzt", schlägt ihre Mutter beim Frühstück vor. „Ist in ihrem Kopf, der gehört untersucht!", wirft ihr Vater gehässig ein. Autumn reagiert auf seine Bemerkung gar nicht erst. Stattdessen macht sie sich allein auf den Weg in die einzige Frauenklinik, die es in ihrem Heimatstädtchen gibt.
Die ist ein merkwürdig beklemmender Ort: Polyestergardinen mit Rosenmuster, plüschige Kissen, Prospekte mit lächelnden blonden Eltern, die in die Ferne schauen. „ Wie kann ich dir helfen?", fragt eine grauhaarige Dame am Empfang. „Ich wollte fragen, ob Sie Schwangerschaftstests durchführen", antwortet Autumn. Das tun sie - und der Test von Autumn ist positiv.
Und jetzt? Was sind die Optionen der 17-jährigen Autumn? Die Beraterin schaut sie verkniffen an und fragt, ob sie daran denke, abzutreiben. „Wäre das denn möglich?", fragt Autumn. Daraufhin steht die Beraterin auf und läuft zu einem Fernseher. Fragt, ob sie ihr was zeigen dürfe - wartet die Antwort aber gar nicht ab. Ein Video startet, es sieht aus wie aus dem vergangenen Jahrhundert. Ein Mann im Anzug verkündet darin: „Dieses Video entlarvt die schreckliche Wahrheit, dass Abtreibung ein gewaltsamer Akt zur Tötung eines Babys ist."
Supreme Court will Recht auf Abtreibung möglicherweise aufheben
Christliche Indoktrination hin oder her: Autumn ist ungewollt schwanger, und sie hat das Recht auf eine Abtreibung. Zwar gibt es in den USA kein Bundesgesetz, in dem das festgeschrieben ist. Aber es gibt seit 1973 einen Präzedenzfall: „Roe versus Wade", heißt er. Eine Texanerin unter dem Pseudonym Jane Roe hatte damals den Bezirksstaatsanwalt Henry Wade verklagt - und bekam Recht: Man darf niemanden zwingen, ein Kind auszutragen. Es ist das Grundsatzurteil, das aktuell auf der Kippe steht: Aus einem am Montag öffentlich gewordenen Urteilsentwurf geht hervor, dass die konservative Mehrheit der Richter am Supreme Court das damalige Urteil rückgängig machen will.
Wobei es auch jetzt schon in mehreren Bundesstaaten nur schwer möglich ist, abzutreiben. Das zeigt auch der Film „Niemals Selten Manchmal Immer" (USA, 2019). In dem Bundesstaat, in dem die Filmfigur Autumn wohnt, Pennsylvania, sind Abbrüche zwar bis zur 24. Schwangerschaftswoche erlaubt. Bei Minderjährigen müssen allerdings die Eltern zustimmen. Und auf deren Unterstützung kann Autumn nicht zählen - was zu der Filmszene führt, die am schwersten auszuhalten ist.
Autumn steht verheult vor dem Spiegel in ihrem Jugendzimmer. Dann holt sie aus und schlägt mit aller Kraft auf ihren Bauch. Immer wieder. Man hört ein dumpfes Geräusch, dazu ihr Schluchzen. Es ist eine Szene, die zeigt: Wer Abtreibungen erschwert oder verbietet, verhindert sie nicht. Sondern nötigt Frauen, zu gefährlichen und gewaltvollen Mitteln zu greifen.
New York erlaubt auch Abtreibungen ohne Einverständnis der Eltern
Zum Glück hat Autumns gleichaltrige Cousine Skylar (Talia Ryder) schließlich eine Idee: Geld zusammenkratzen, nach New York City fahren und die Abtreibung dort machen. Denn in New York geht das auch ohne Einverständnis der Eltern. Einen wirklichen Plan haben die beiden nicht, aber immerhin die Adresse einer Klinik d er Organisation Planned Parenthood. Es ist eine Klinik, die sich kaum stärker von der fundamentalistischen Einrichtung in ihrer Heimatstadt unterschieden könnte. Die Cousinen packen also einen Rollkoffer und machen sich heimlich auf die stundenlange Busfahrt in die Großstadt.
Die Idee für den Film „Niemals Selten Manchmal Immer" hatte Regisseurin Eliza Hittman schon 2012. Damals las sie von einer Frau in Irland, der eine lebensrettende Abtreibung verweigert wurde. Sie starb daraufhin an einer Blutvergiftung. Mittlerweile gibt es in Irland ein Recht auf Abtreibung, aber damals reisten Frauen, wenn sie denn konnten, dafür nach London. Ganz ähnlich ist es in den USA: Gerade in ländlichen Gegenden bleibt den meisten Frauen nichts anderes übrig, als in weit entfernte Städte oder andere Bundesstaaten zu fahren, wobei sich das viele gar nicht leisten können. Auch Autumn und Skyler geht im Spielfilm schnell das Geld aus. Denn weil Autumn auf keinen Fall will, dass ihre Eltern auf der Abrechnung der Krankenkasse sehen, dass sie abgetrieben hat, bezahlt sie den Eingriff bar. Dabei geht auch das Geld für die Rückfahrkarte drauf.
Restriktive Gesetzgebungen in mehr als der Hälfte der Bundessaaten
Wenn der Supreme Court tatsächlich das Recht auf Abtreibung in den USA aufhebt, eine Entscheidung wird im Juni oder Juli erwartet, werden die Wege für ungewollt Schwangere noch länger und die Kosten noch höher. Laut dem Sender NBC würden dann nämlich in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten restriktive Gesetzgebungen in Kraft treten. Dort wäre dann ein professionelles und einfühlsames Beratungsgespräch wie das, was Autumn mit einer Sozialarbeiterin in der New Yorker Klinik führt, unmöglich.
„Hi Autumn, ich bin Kelly, deine Beraterin - wie fühlst du dich?", fragt sie. „Okay", antwortet Autumn. Kelly, die übrigens von der echten Sozialarbeiterin Kelly Chapman gespielt wird, klärt sie ausführlich über den Eingriff auf. Fragt nach ihrer medizinischen Vorgeschichte. Und auch nach ihren Erlebnissen in Beziehungen. „Denn die können deine Gesundheit beeinflussen, wusstest du das?" Autumn schüttelt den Kopf. Auf die folgenden Aussagen soll sie mit „niemals", „selten", „manchmal" oder „immer" antworten - was den Titel des Films erklärt. „Dein Partner hat sich geweigert, ein Kondom zu benutzen", ist eine dieser Aussagen. Oder auch: „Dein Partner hat dich zum Sex genötigt, obwohl du nicht wolltest." Was Autumn auf diese Fragen antwortet, sei an dieser Stelle offen gelassen.
Dann fragt sie die Sozialarbeiterin Autumn noch, was zu ihrer Entscheidung geführt hat, die Schwangerschaft abzubrechen. „Ich bin noch nicht bereit, Mutter zu werden", antwortet Autumn. Das sei völlig in Ordnung, versichert ihr die Sozialarbeiterin. „Wie auch immer deine Entscheidung ausfällt, es ist völlig in Ordnung, solange es deine ist." Mit „Niemals Selten Manchmal Immer" ist Regisseurin Eliza Hittman ein eindringlicher Film über Selbstbestimmung gelungen. Er könnte kaum aktueller sein.