2 abonnements et 2 abonnés
Article

Meinung: Warum der Fall Reichelt ein Lehrstück über #MeToo ist

Zündfunk/ BR

Sogar der Axel-Springer-Konzern musste einsehen, dass Julian Reichelt als Chefredakteur der Bildzeitung untragbar ist und hat ihn gefeuert. Die Symbolfigur männlicher Hybris muss gehen – endlich. Ein Kommentar.


Montagabend, Berlin. Das Axel-Springer-Hochhaus verwandelt sich scheinbar in einen Kreissaal: „Julian Reichelt entbunden", teilt der Verlag mit. Entbunden von seinen Aufgaben, schon klar - und doch steht die euphemistische Formulierung stellvertretend für den verstockten Umgang des Verlages mit seinem zweifelhaften, nun ehemaligen, Chefredakteur. Die Formulierung stieß ähnlich auf wie jene, dass Sebastian Kurz nicht zurücktrete, sondern nur „zur Seite". Sebastian Kurz und Julian Reichelt: die beiden Symbolfiguren männlicher Hybris unserer Tage.

Fehlverhalten fängt nicht erst bei Vergewaltigung an

Der Fall Julian Reichelt ist zudem ein Lehrstück über #MeToo. Wenngleich es, wie Axel Springer in seiner Pressemitteilung beflissen betonte, im Rahmen der internen Untersuchung „nie den Vorwurf sexueller Belästigung oder sexueller Übergriffe" gegen Reichelt gab. Fehlverhalten fängt allerdings nicht erst bei einer Vergewaltigung an. Machtmissbrauch und das Ausnutzen von Abhängigkeiten, das ist es, was Reichelt sich jetzt vorwerfen lassen muss. Es geht um sexuelle Avancen gegenüber ihm unterstellte Mitarbeiterinnen, Volontärinnen und Praktikantinnen. Um Sex gegen Geld und Beförderungen. Das Absurde: Die Vorwürfe kursieren seit Monaten. Und trotzdem hatte das interne Untersuchungsverfahren Reichelt im Frühjahr vorschnell rehabilitiert. Er habe zwar Fehler gemacht, aber keine unverzeihlichen und verdiene keine Kündigung, sondern eine zweite Chance.

Sex, Lügen und eine geheime Zahlung

Dass Reichelt kein Chef ist, den man sich wünscht, sondern einer, der mit aufgeknöpftem Hemd und Gummibärchen im Mund Einwände auf Redaktionskonferenzen niederbrüllt, konnte man schon in der im Dezember veröffentlichten Amazon-Doku „BILD.Macht.Deutschland?" beobachten - obwohl diese sich ansonsten alle Mühe gab, sich an die Bild-Zeitung anzubiedern. Mit jeder Menge Raum zur unwidersprochenen Selbstdarstellung und Schrifteinblendungen, die wie Bild-Schlagzeilen aussahen.

Die neuesten Enthüllungen gehen aber über eine unangenehme Diskussionskultur weit hinaus. Dass Rechercheteam der Ippen-Gruppe förderte ebenso wie die New York Times ein Geflecht zutage aus „Sex, Lies and a Secret Payment", also Sex, Lügen und einer geheimen Zahlung. Wobei die Ippen-Redakteure ihre Recherche an den Spiegel weitergaben, weil ihr eigener Verleger sie nicht publizieren wollte - ein weitere Blick in mediale Abgründe.

Springer reagierte mit Reichelts „Entbindung". Doch es bleibt ein bitterer Nachgeschmack, der sich nur schwer wegspülen lässt: Man ahnt, dass Axel Springer nur deshalb so schnell und endlich konsequent reagierte, weil das Unternehmen um seine Investitionen in den US-Markt fürchtet. Investitionen in dem Land also, in dem die #MeToo-Bewegung, das Aufbegehren gegen sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz, ihren Anfang nahm. Erst in diesem Sommer hatte Axel Springer für angeblich eine Milliarde Dollar die US-amerikanische Tageszeitung Politico gekauft. Einmal mehr kommt erst das Fressen und dann die Moral.

„Ich will deinen Körper spüren"

Wer den Spiegel-Artikel mit den neuen Enthüllungen zum Fehlverhalten von Julian Reichelt liest, muss aufpassen, dass einem nicht das Abendessen hochkommt. „Ich will deinen Körper spüren", soll Reichelt einer Berufsanfängerin geschrieben haben. Nach Spiegel-Informationen soll Reichelt auch nach der internen Untersuchung und der „zweiten Chance" eine weitere sexuelle Beziehung zu einer ihm unterstellten Mitarbeiterin gehabt haben. Wer mit ihm schlief, soll berufliche Vorteile genossen haben. Lob, Aufstiegschancen, in mindestens einem Fall die großzügige Erstattung von Rechercheausgaben.

Bei alldem drängt sich eine Frage auf, die sich bei allen Fällen von Machtmissbrauch am Arbeitsplatz aufdrängt: Warum hat keiner etwas getan? Bei Bild scheint eine Kultur und Struktur zu herrschen, die jahrelangen Machtmissbrauch erst möglich machte. Auch Ex-Bild-Chef Kai Diekmann wurde übrigens sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen, eine ehemalige Mitarbeiterin warf ihm Belästigung vor. Das Verfahren wurde jedoch wegen fehlender Beweise eingestellt.

Was sich ändern muss

Im Fall von Julian Reichelt schauten die Kollegen und Kolleginnen weg. Schienen es nicht weiter schlimm zu finden, wenn, so ist es im Spiegel-Artikel zu lesen, Frauen nach ihrer „Fuckability" beurteilt werden. Raunten sich über die neue Volontärin zu, „Vorsicht, das ist eine von Julian". Wussten, dass er immer wieder sexuelle Verhältnisse mit Kolleginnen hatte, die in der Hierarchie weit unter ihm standen. Besonders im Politik- und Showressort habe er „gewildert".

Ein Chefredakteur, der seinen Posten missbraucht, um junge Kolleginnen ins Bett zu kriegen; das schreit nach Gleichstellungsbeauftragten, die ihren Job ernst nehmen. Nach Compliance-Verfahren, die auch ohne Medienberichte aus den USA personelle Konsequenzen ziehen. Nach Aufstiegschance für Frauen, auch in männerbündlerischen Verlagen, die von der Leistung abhängen und nicht davon, ob sie mit dem Chef schlafen (Wie war das nochmal mit den Frauenquoten, liebe Bildzeitung?). Und nach Kollegen und Kolleginnen, die den Opfern von Machtmissbrauch Rückhalt geben. All das scheint es bei der Bild-Zeitung nicht zu geben.

Insofern ist wenig überraschend, dass Bild-Reporter Paul Ronzheimer, der Reichelt gestern bei Bild Live verabschiedete, von einem „schweren Abend" schwadronierte, er wolle sich bei Reichelt „bedanken", an „journalistische Glanzleistungen" erinnern. Ronzheimer schloss mit einem „Julian, wir denken an dich". Kein Wort über die Betroffenen des Machtmissbrauchs. Keine Entschuldigung. Kein Versprechen der Aufarbeitung. Es klang wie eine Trauerrede. Dabei sind wir von dem Tag, an dem einer, der seine Macht für sexuelle Beziehungen missbraucht, einen sozialen Tod stirbt statt als gottgleicher Kollege glorifiziert zu werden, noch weit entfernt. Leider.

Rétablir l'original