Ich kann nicht älter als vier Jahre gewesen sein, als ich «Space Dream» das erste Mal gesehen habe. Am besten kann ich mich noch an den Start der Raumschiffe erinnern, wenn sich der Hangar des Flughafens Berlin-Tempelhof in einen intergalaktischen Raumhafen verwandelte. Von der Decke schwebten zwei silbrig glänzende Dreiecke zu Boden, wo Roboter auf glänzenden Armaturen den Start ihrer Raumschiffe dirigierten. Ein metallischer Sound tickte herunter, die Nebelmaschinen pusteten ihren Dunst auf die Bühne, und mit einem lauten Knall setzten sich Shuttle und Crew in Bewegung, umjubelt von Dutzenden Tänzerinnen und Chorsängern.
Das machte Eindruck auf den Vierjährigen. Mein Bruder, fünf Jahre älter als ich, zupfte mir am Ärmel. «Schau mal», sagte er und deutete auf die Bühnenmitte, wo eine Frau im goldenen Kleid stand und mit erhobenen Armen den Raketen zuwinkte. «Mutti.»
Das war das Wort, auf das wir uns, für seine Mutter und meine Stiefmutter, geeinigt haben. Wir platzten beide vor Stolz und sogen die Atmosphäre des Abends in uns auf. Dass wir die englischen Songtexte nicht verstanden, war uns egal. 25 Jahre ist das her. Und nun, ein Vierteljahrhundert später, am 9. März 2022, ist es endlich so weit.
Wir sitzen in der Zürcher Maag-Halle, und wieder heisst das Stück «Space Dream». Heute allerdings gibt es keine Lasershow, keine silbrigen Dreiecke, keinen Flughafenhangar, und auch «Mutti» spielt nicht mehr mit. Stattdessen schieben sich die Attrappen eines Fiat Jagst und eines Fiat Panda auf die Bühne. Es ist ja bekannt, dass man als Kind seine Umgebung viel grösser und beeindruckender wahrnimmt – aber hatten wir uns so sehr verschätzt?
Na ja, denke ich. Zumindest der Nebel ist geblieben, und die Musik ist auch noch dieselbe. «Space Dream», mit über 1 Million Zuschauern die erfolgreichste Musicalproduktion in der Geschichte der Schweiz, ist wieder zurück auf der grossen Bühne.
Geschrumpftes Erleben
Wie häufig habe ich die Show damals gesehen? Auf jeden Fall ein paar Dutzend Mal, wir hatten ja einen guten «Kontakt». Und so kam es dazu, dass zwei Berliner Jungs bis heute nahezu jeden Song des Schweizer Kultmusicals mitsingen können.
Ausserhalb der Schweiz ist das Musical nahezu unbekannt, der einjährige Ausflug nach Berlin in den Jahren 1997 und 1998 scheiterte auf ganzer Linie. Bei Kritikern und Publikum fiel das Stück durch, die «Welt» nannte die Geschichte damals «so dünn und dumm, dass sie nicht einmal einen Abend lang trägt», und auch die Berliner Tageszeitung «taz» konstatierte ein Jahr später, «Space Dream» sei in Tempelhof «abgeschmiert».
Es scheint also, als müsste man dieses Musical wirklich lieben, um es zu mögen – oder man hat es idealerweise als Kind zum ersten Mal gesehen.
Um die Geschichte von «Space Dream» und auch seinen Erfolg in der Schweiz zu verstehen, müssen wir noch einmal zurück in die Vergangenheit reisen, diesmal ins Jahr 1994. Damals hatten die beiden Komponisten Harry Schärer und Peter Schwinger für die Gewerbeschau «Mega» im aargauischen Berikon ein Musical geschrieben. Die Inspiration, so erzählt Harry Schärer, sei ihm in seinen mehrjährigen Berlin-Aufenthalten gekommen, wo er den Mauerfall am 9. November 1989 – Schärers 30. Geburtstag – hautnah mitbekam. Was niemand ahnen konnte: Schärer und Schwinger lösten mit ihrem Stück eine Euphoriewelle aus.
Fünf Vorstellungen waren geplant, die Darsteller, die Chöre allesamt Laien, doch das Publikum liebte das Weltraummärchen aus Schweizer Fertigung. Also ging «Space Dream» in die grosse Produktion, erst nach Baden, dann nach Berlin, bis es in Winterthur nach über 1500 Vorstellungen und zwei weiteren Teilen ein monströses Ende fand. Nur ein Problem gibt es bei der Sache: «Space Dream» ist wirklich kein gutes Musical.
Ein Planet mit «primitiver Satellitentechnik auf 5G-Niveau»
Die Geschichte ist einfach gestrickt: Auf dem weit entfernten Planeten Hexxor leben zwei verfeindete Völker, die Cruhls und die Tetons, die dazu übergegangen sind, ihre Rivalität in einem intergalaktischen Weltraumrennen auszutragen.
Für die Cruhls geht der Königssohn Rodin (Adrian Burri) mit seinen beiden Navigationsrobotern Roboto und Mega (Lucca Kleimann, Sandra Leon) an den Start. Für die Tetons bricht der Soldat Kai (Marc Früh) mit seinem Team Macchina (Deliah Stuker) und WD40 (Jochen Schaible) in die Weiten des Alls auf. An einen möglichen Sieg knüpft er die Bedingung, die Königstochter Sira (Sandra Bitterli) zu heiraten.
Schon kurz nach Start der Raumschiffe hat der Königssohn Rodin ein Problem mit der Technik. Er und sein Team müssen auf der sogenannten «Erde», einem Planeten mit «primitiver Satellitentechnik auf 5G-Niveau», notlanden – und zwar genau vor dem Haus der Erdenbewohnerin Reachel (Laura Aubert), die verzweifelt nach ihrem Liebesglück sucht.
Gemeinsam mit ihrem Weltraumprinzen Rodin besteigt sie sein Raumschiff und schaltet sich sofort in die Diplomatie zwischen den verfeindeten Völkern ein. In einer Vision sieht sie einen riesigen Meteor auf Hexxor zurasen, der alles Leben zu zerstören droht. Reachel versucht, die Herrschenden davon zu überzeugen, das Rennen abzubrechen und sich des viel drängenderen Problems, der kompletten Auslöschung ihrer Lebensgrundlagen, anzunehmen. Aber diese schlagen die Warnungen aus und versuchen lediglich, ihre Machtinteressen durchzusetzen – wofür sie teuer bezahlen.
Sie singen nun auf Schweizerdeutsch
Die Veränderungen, die der Regisseur Rolf Sommer und der musikalische Leiter Lukas Hobi vorgenommen haben, sind teilweise drastisch. Die auffälligste Neuerung sind die Liedtexte. Im Original waren diese auf Englisch, allerdings auf so einem traurigen Niveau, dass es niemanden wundern muss, warum das Musical auf der grossen Bühne in Berlin scheiterte. Kurzes Beispiel gefällig? «Who’s the master with the Ghetto-Blaster? Oh my God, what a disaster! But to be cool, to own a swimming pool. In real life that’s not the rule.»
Dieses Manko umgehen Sommer und Hobi geschickt, indem sie die Texte in Mundart umgedichtet haben. Als Deutsche klingt das für mich und meinen Bruder zwar unterhaltsam, doch verstehen wir nun wieder ähnlich viel wie damals als kleine Kinder. Da ist es hilfreich, dass wir bereits wissen, wohin die Reise geht.
Doch auch an der Story haben die Autoren gefeilt. So haben sie sich vom kitschigen Happy End des Originals getrennt. Fielen sich in der alten Fassung zum grossen Finale die beiden versöhnten Völker in die Arme, bricht nun auf Hexxor das totale Chaos aus, das nur durch eine neue Generation von Herrschenden unter Kontrolle gebracht werden kann.
Das eigentliche Kunststück der Neuinszenierung besteht darin, das Original auf liebevolle Art und Weise auf die Schippe zu nehmen, das Ganze kommt frischer und lockerer daher als das Original. Denn woran das alte «Space Dream» krankte, war das ungebremste Pathos, dem das Stück aus allen Poren quoll. Die Inszenierung hätte nicht grösser, nicht aufwendiger und bombastischer sein können als in den Neunzigern, wo bis zu 120 Darsteller, Tänzerinnen und Sänger auf der Bühne standen.
Jetzt nimmt sich das Stück glücklicherweise nicht mehr zu ernst und ist eher wie ein Off-Broadway-Musical gehalten. Das Bühnenbild ist funktional und schlicht, das Ensemble ist jung und frisch, und das Stück hat sich an die aktuelle Gemengelage angepasst.
Als man noch hoch hinauswollte
«Space Dream» war ein unschuldiges Kind seiner Zeit, in der man hoffte, die Geschichte sei nun zu Ende. Der Kalte Krieg war Vergangenheit, die Aussöhnung der beiden Weltmächte USA und Russland schritt voran, man baute Mauern, Atombomben und Vorbehalte ab, und nichts schien mehr unmöglich zu sein. Und natürlich wollte man hoch hinaus, endlich final in den Weltraum vorstossen und die Menschheit auf ein neues Level hieven.
Heute, fast drei Dekaden später, ist von dieser Aufbruchsstimmung nicht mehr viel übrig. Einen kurzen Gänsehautmoment gibt es, als das Ensemble in weissen Soldatenkostümen eine Choreografie tanzt und seine Gewehre in Gelb, die Helme in Blau aufleuchten. Eine Solidaritätsbekundung mit der von Russland angegriffenen Ukraine? Ja, allerdings eine ungeplante, schliesslich wurde das Stück bereits im vergangenen Jahr produziert, bis man sich wegen der angespannten Corona-Lage dazu entschloss, den Start um ein Jahr zu verschieben.
Die Analogien zur heutigen Zeit sind dennoch eindeutig: Die grosse Aussöhnung der Völker findet nicht mehr statt, im Gegenteil, es braucht erst eine neue Generation von Herrschenden, die überhaupt bereit ist, die Probleme der Zeit anzugehen. So beschliesst Königin Sira in ihrer ersten Amtshandlung, Roboter zu fühlenden Lebewesen zu erklären. Die «verbotene Zone», welche die beiden Völker zuvor trennte und laut den Machern durch die Berliner Mauer inspiriert war, wird für nichtig erklärt.
Vielleicht muss tatsächlich erst alles im Chaos enden, müssen die Herrschenden verdrängt und ersetzt werden, bevor ein wirklicher Neuanfang gelingen kann – für Musicals, die normalerweise dazu tendieren, die Welt in schrillen Farben und kitschigen Kostümen darzustellen, ist dies eine wahrlich finstere Message. Aber beim anschliessenden Schlussapplaus ist davon nicht mehr viel zu spüren.
Letztlich kann auch die gelungene Neufassung nicht darüber hinwegtrösten, dass das Original grosse qualitative Lücken aufweist. Als Kernbotschaft bleibt nicht sonderlich viel übrig. Hiess es im Original noch: «Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum», gilt für die neue Version eigentlich nur noch: «Deine Träume sind egal. Die Realität sieht anders aus.»
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