Es ist schon spät am Abend, als mir klar wird, dass es zu viel geworden ist. Draußen tobt der schwäbische Winter. Ich liege im Bett, der Kopf dröhnt vom Tag und der Schlaf will nicht kommen. Einige Stunden zuvor, am Reutlinger Marktplatz, habe ich einen Mann mit Trump-Mütze fotografiert, was ihm nicht besonders gefiel. Die Organisatoren der Demonstration sahen in der Mütze kein Problem, sehr wohl aber in mir. Das Foto solle ich löschen, mich hier nie wieder blicken lassen. „Wir wissen, wo Sie wohnen", sagte man mir noch.
Inzwischen gehört das zur Routine. In den vergangenen Monaten habe ich auf eine fatale Weise begonnen, mich an den Hass zu gewöhnen. Ich wurde geschubst, beschimpft und mal mehr oder weniger glaubwürdig bedroht. Schlimmeres passierte zum Glück nie.
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen - jeden Samstag am Kiosk oder hier im Abo. Jetzt auch das neue Probe-Abo testen - 4 Wochen gratis Am 26./27. Juni 2021 im Blatt: Die reine Kraft: Neue Technologien machen Atomkraft immer sicherer. Ist die deutsche Angst vor nuklearer Energiegewinnung künftig unbegründet? Der berühmte Mathematiker Matthias Kreck sagt, die Pandemie wurde falsch bekämpft. Doch man will nicht auf ihn hören Am 1. Juli öffnen die Berliner Kinos. Wie es der Filmbranche wirklich geht Senatsbaudirektorin Regula Lüscher hört auf. Unser Fazit: „Danke für nichts" Gibt es in Schlesien tatsächlich verbuddeltes Nazigold? Unsere Reporter sind hingefahren https://berliner-zeitung.de/wochenendausgabe
Doch diesmal, denke ich, war es anders. Eine Kleinstadt, kurze Wege - sollte sich tatsächlich jemand die Mühe gemacht haben, die Anschrift meiner Reutlinger Wohnung herauszubekommen? Vor meinem Fenster sehe ich Licht aufsteigen. Ein Auto nähert sich. Jetzt kommen sie, denke ich, wollen mit mir, der „Systempresse", ein Gespräch führen, vielleicht sogar Schlimmeres. In Duckhaltung laufe ich zum Fenster. Ein Auto parkt mühsam im Schneetreiben ein. Kein Angreifer der Welt, denke ich, würde sich die Mühe machen, so genau einzuparken. Am nächsten Morgen ist das Hirngespinst verflogen. Es ist alles in Ordnung. Ich bin in Sicherheit.
Begonnen hat alles mit so viel Hoffnung. Und vielleicht sogar Verständnis. Es ist der 9. Mai 2020, ein warmer Frühsommertag, als die Stimmung auf dem Alexanderplatz unvermittelt kippt. „Nazis raus!", brüllt jemand durch ein Megafon. Es ist Hendrik Sodenkamp, Autor der Zeitung Demokratischer Widerstand und Mitorganisator der sogenannten Hygiene-Demos, die er gerade mit einigen seiner Bekannten ins Leben gerufen hat. Sie vermuten, die Corona-Krise sei inszeniert, durch geheime Eliten gesteuert. Doch gerade hat Sodenkamp andere Sorgen.
Seine verzweifelten Rufe kommen bereits zu spät. Hunderte Teilnehmende einer Demonstration, die er selbst organisiert hat, beschimpfen ihn als „Spalter". Nur wenige Meter weiter, im Brunnen der Völkerfreundschaft, steht ein einzelner Mann mit zotteligen langen Haaren knöcheltief im Wasser. Unter ihm versucht eine überforderte Polizei, dass nicht noch mehr Menschen dazukommen.
Auf dem höchsten Punkt des Brunnens ist sich der Mann der gesamten Aufmerksamkeit der Menge gewiss. Auf ein Pappschild hat er eine Botschaft gekritzelt, die er mit den Anwesenden teilt: „Gates noch?" Applaus brandet auf, minütlich klettern mehr Menschen und Botschaften auf das breite Plateau. Ein weiterer hat den Langhaarigen erreicht und fällt ihm in die Arme. Auch er hat ein Plakat dabei, auf dem steht „Wir sind eine Menschheitsfamilie". Ein betrunkenes Pärchen folgt direkt.
Etwas wächst zusammenDer Brunnen am Alexanderplatz ist zum Tollhaus geworden. Bevor die Polizei Absperrgitter hochzieht und kurzzeitig die Kontrolle zurückerobert, hat sich ein junger Mann mit gescheiteltem blondem Haar dazugestellt. Er hält eine Deutschlandflagge in der Hand, sie flattert im Wind. Der zottelige Typ mit dem „Gates noch"-Schild sieht kurz irritiert zu ihm herüber. Es entwickelt sich ein knappes Gespräch. Dann umarmen sie sich. Kurz darauf schwenkt der Zottelige die Flagge selbst.
Es ist der Tag, an dem in Deutschland zusammenwächst, was vielleicht nicht zusammengehört, aber scheinbar zusammenpasst. Die zunächst von Linksradikalen und Esoterikern begonnenen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen werden von Hooligans und Reichsbürgern vereinnahmt. Eine Szene der „Querdenker" findet sich. Ob sie rechts oder links ist, jung oder alt - das ist hier nebensächlich. Hauptsache, man ist dagegen.
Als ich die Verbrüderungsszenen am Alexanderplatz beobachte, bekomme ich Angst. Auch deshalb, weil sich mein Weltbild verformt. Hippies, die mit Rechtsradikalen baden? Linksextreme, denen ihre eigene Demo aus den Händen gleitet? Ich beschließe, mehr erfahren zu wollen.
Über ein Jahr habe ich über „Querdenken" berichtet, auf meinem Blog, in Zeitungen, auf Podcasts. Damit habe auch ich dazu beigetragen, dass diese Bewegung mehr Aufmerksamkeit bekommt. Einmal pro Woche ging ich auf eine Demo, größere wie in Leipzig, Berlin oder Kassel, aber auch viele kleinere Versammlungen, insbesondere im Großraum Stuttgart, Herzkammer und Gründungsort der Bewegung.
„Querdenken" ist eigentlich ein schönes Wort. Es meint, nicht linear, sondern abstrakt zu denken, seine Gedanken in mehrere Richtungen strömen zu lassen. Im Englischen würde man es vermutlich mit „Thinking outside the box" übersetzen. Das hat „Querdenken" aber nie getan. Dort wurde nicht außerhalb, sondern innerhalb der kleinstmöglichen Box gedacht. Das Wort ist nun vermutlich für viele Jahre verbrannt. Schade drum.
Mit der Recherche begonnen habe ich aber aus Verärgerung. So manche Berichterstattung machte es sich in der Analyse der Bewegung zu einfach. Ich sehe Reporter eines Videonachrichtendienstes über die Demo laufen und ein paar haarsträubende O-Töne einsammeln, schräge Ansichten, die im Internet dankbar geklickt werden. Es wurde schnell ein „Die" und „Wir" daraus.
Ich wollte verstehen, was die Menschen antreibt. Und wer diese Menschen sind. Meine Absicht, den Menschen zuzuhören, herauszubekommen, was sie hierhergebracht hat, hat nicht nur Kraft gekostet, sondern immer wieder Kritik eingebracht. Mit solchen Leuten, sagten mir einige, solle man gar nicht erst reden. Das Effektivste wäre, sie aus dem medialen Diskurs auszuschließen. Ich tat das Gegenteil. Ich wollte wissen: In was für einer Gesellschaft leben wir, die solchen Protest hervorbringt? Und welche Menschen engagieren sich da?
So kann es nicht weitergehen, auf die Eliten ist kein VerlassDer Soziologe Oliver Nachtwey stellte in einer nicht repräsentativen Studie für die Universität Basel fest, dass die Mitglieder der „Querdenken"-Bewegung „zum Teil von links kommen, aber nach rechts gehen". Insgesamt fand er keine überdurchschnittlich hohe Zustimmung für einschlägig rechtsextreme und ausländerfeindliche Aussagen. Das unterscheidet deren Mitglieder stark von der „Pegida"-Bewegung, die sich stark ausländerfeindlich präsentierte. Auch fand er heraus, dass sich ein nicht unerheblicher Teil der Anwesenden eher dem linksprogressiven Lager zuordnet - und nun zunehmend in Richtung der rechtsradikalen AfD tendiert. Der einzige Nenner, auf den sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen hier einigen konnten, war, dass es so nicht weitergehen könne - und auf die Eliten kein Verlass sei. Was auch immer das heißen mag. Man findet schnell Gleichgesinnte, wenn alles Bestehende in destruktiver Weise ablehnt wird.
Das erfahre ich selbst, als ich auf einer Demo auf dem Marktplatz in Schwäbisch Gmünd stehe. Ein paar Dutzend Gastronomen treffen sich hier täglich zur Mahnwache als „Querdenker".
„Was kann Politik denn tun, damit sie ihr wieder mehr vertrauen?", frage ich.
Mein Gegenüber antwortet mit langem Grübeln. „Sich mehr um die Menschen kümmern", sagt einer.
„Mit mehr Geld?", frage ich.
„Naja, das können wir uns ja eigentlich nicht leisten als Staat", sagt eine Frau zögerlich.
„Dann Steuern rauf?", sage ich.
„Ja, absolut!", sagen beide. „Und Jeff Bezos von Amazon. Den könnte man mal ordentlich besteuern."
Einige Wochen zuvor überrede ich eine ältere Frau in Berlin nach langer Diskussion und langem Zuhören dazu, den „Ungeimpft"-Judenstern doch abzunehmen. Es kostet Kraft - Kraft, die ich heute nicht mehr habe.
„Querdenken" wird häufig als geschlossen rechte Bewegung geframt. Das ist falsch. „Querdenken" ist im Kern eine Graswurzel-Bewegung, die über verschiedene politische Richtungen Menschen zusammenbringt. Hier kamen all die politisch Enttäuschten und Frustrierten der vergangenen Jahre zusammen.
Ich habe mit ehemaligen CDU-Wählern und -Wählerinnen gesprochen, ehemaligen Grünen, unzähligen verlorenen Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, und dazu viele, die sich zuvor gar nicht politisch verortet haben. Dazwischen gab es viele Verunsicherte, die durch die Corona-Maßnahmen tatsächlich um ihre Existenz fürchten mussten - und Menschen, deren Leben nicht so verlaufen war, wie sie sich das vorgestellt hatten, und die einen Sündenbock brauchten. Ein nie zuvor gesehener Zusammenschluss.
Kein Grund mehr, zu demonstrierenFür einige war die Sache nicht mehr als ein Happening, fast ein Nachholen der Pubertät. Man konnte sich nach Herzenslust mit der Polizei anlegen, die Welt als ungerecht und vor allem gegen sich gerichtet empfinden. Sei es aus Langeweile oder aus intellektueller Kurzsichtigkeit: ein solches Weltbild - das tapfere Volk gegen den totalitären Staat - gab plötzlich vielen einen Sinn. Für andere war es ein Kampf aus tiefster Überzeugung, gegen ein korruptes System, das es zu stürzen gilt. Vor diesen Leuten sollten wir uns in Acht nehmen. Die Brandanschläge auf das Robert-Koch-Institut im vergangenen Jahr lassen keine Zweifel an der Gewaltbereitschaft einzelner Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Gerade die neuen Allianzen, die sich während der Corona-Krise zwischen teils sehr unterschiedlichen Lagern gebildet haben, können auch in Zukunft eine Gefahr für die Demokratie darstellen.
Die Impfungen, das gute Wetter, die allgemeine Aufbruchsstimmung: Dies alles nimmt der Bewegung zurzeit den Wind aus den Segeln. Die prognostizierten Todeszahlen durch die Impfung bleiben aus, die Pandemielage entspannt sich täglich. Möglicherweise können im Herbst erneut steigende Fallzahlen „Querdenken" einen neuen Schub geben. Doch mit jedem Tag schwindet die Notwendigkeit, überhaupt noch zu demonstrieren. Die letzten Versammlungen von „Querdenken" waren allesamt ein Flop. Die angekündigte Überflutung Berlins über Pfingsten fiel aus, und sogar dem Chef-Strategen Michael Ballweg gelingt es nicht mehr zu mobilisieren. Lediglich 200 Personen lockte er Mitte Juni in Hannover auf die Straße.
Noch hoffen die Organisatorinnen und Organisatoren im August an die Erfolge aus dem Vorjahr anzuknüpfen, wo man es auf mehrere Zehntausend Teilnehmende geschafft hatte und ein Teil der Demonstrierenden die Reichstagstreppen kurzzeitig besetzte. Unwahrscheinlich, dass ihnen das erneut gelingen wird. Die Bewegung hat ihren Zenit längst überschritten.
Mit meiner Erschöpfung, zu verstehen, erschöpft sich auch die Bewegung.
„Die Diktatur ist real und du ganz schön dumm"Ich stehe im Berliner Tiergarten, es ist der Sonnabend vor Pfingsten und ich beschließe, dass es meine vorerst letzte „Querdenker"-Demo sein wird. Der Tag ist sonnig und warm, und es ist schön, mal wieder in der Heimat zu sein. Ich habe mich mit einem älteren Herren angelegt. Er sei Jude, sagt er, und störe sich an den Holocaust-Vergleichen keineswegs. Die Diktatur sei real und ich „ganz schön dumm", findet er.
Nichts ist anstrengender, als ein Gespräch mit jemandem zu führen, der partout nicht verstanden werden will. Ich lasse den Mann stehen und fahre nach Hause. Ich bin müde, meine Empathie ist aufgebraucht. Die Bewegung und ihre Menschen verstehen, ich kann es nicht. Nicht einmal, wenn ich es versuche. So erscheint es fast beruhigend, wie viele Menschen sich ohne Murren eine Maske aufgesetzt und Abstand gehalten haben. Hoffen wir, dass auch in zukünftigen Krisen die Vernünftigen in der Mehrheit bleiben.
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