Während einer polizeilichen Räumung in Frankfurt stirbt ein Deutsch-Türke in seiner Wohnung. Im Internet bekommt der Fall viel Aufmerksamkeit: Viele Türken unterstellen Fremdenfeindlichkeit.
Es ist drei Uhr nachmittags am 1. Juni, als zwei Polizisten die Wohnung von Savas Karakas in Höchst betreten. Die Polizisten sollen die Wohnung des 42 Jahre alten Mannes räumen. Die Räumung hat Karakas' Frau vor Gericht erwirkt, sie konnte und wollte nicht mehr mit ihrem Mann zusammenleben. Karakas' Bruder Hakan wird später erzählen, er habe den Polizisten die Tür geöffnet. Als Karakas sich weigert mitzukommen, rufen die Beamten Verstärkung. Wenig später kommen vier weitere Polizisten die Treppen hoch.
Was dann passiert, ist unklar. Karakas' zweiter Bruder Mustafa, der vor dem Haus wartet, sagt, er habe Karakas schreien hören, dann sei es still geworden. Zwanzig Minuten später fährt ein Rettungswagen vor, dann noch einer. Was die Familie erst später erfahren wird: Savas Karakas ist bei dem Einsatz ums Leben gekommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die sechs Polizeibeamten.
Es dauert zwei Tage, dann schalten sich türkische Medien ein. Am 3. Juni stellt die Zeitung „Milliyet" ein verwackeltes Video ins Internet. Zu erkennen ist Hakan Karakas, der vor dem Polizeirevier in Höchst steht. Er hält ein Pappschild hoch, darauf steht: „Polizei! Ihr habt meinen Bruder getötet." Kurz darauf titelt die türkische Zeitung „Daily Sabah": „Türkischer Familienvater in Frankfurt von der Polizei totgeprügelt." Ihre einzige Quelle sind die beiden Brüder des Toten.
In den sozialen Netzwerken regen die Bilder viele Deutsch-Türken auf. Hunderte Nutzer teilen die Artikel, einige von ihnen schreiben: „NSU 2.0" oder fragen: „Warum berichten die deutschen Medien nicht?" Türkische Zeitungen, die in Deutschland viel gelesen werden, schreiben über „Rassismus bei der deutschen Polizei" - ohne weitere Belege. Die deutsch-türkischen Beziehungen sind schon seit Monaten an einem Tiefpunkt angekommen, der Vorfall befeuert die Vorurteile. Und auch Mustafa Karakas fragt: „Sind wir weniger wert?" Obwohl sein Bruder in Frankfurt geboren und aufgewachsen ist, beschließt seine Familie, ihn in der Türkei zu begraben.
Zum Verständnis der Geschichte gibt es eine entscheidende Information: Savas Karakas war psychisch schwer krank, er hatte eine Schizophrenie - und die Räumung hätte ihn eigentlich vor sich selbst schützen sollen. Mustafa Karakas erzählt, sein Bruder habe schon mit Anfang zwanzig psychotische Schübe bekommen. Er hörte Stimmen und fühlte sich verfolgt. Die Familie, deren Nachname wegen der laufenden Ermittlung für diese Geschichte geändert worden ist, ließ ihn damals in eine Psychiatrie einweisen.
Das Schwierige an vielen Schizophrenen ist, dass sie nicht glauben, krank zu sein. Außerdem können sie erst zu einer Behandlung gezwungen werden, wenn sie für sich oder andere zu einer Gefahr werden. Karakas hat Glück, dass sich seine Familie um ihn kümmert. In der Psychiatrie bekommt er Medikamente, die seine Schübe dämpfen. Die Nebenwirkungen der Tabletten: Er nimmt zu und ist oft müde. Trotzdem kann er mit Hilfe der Medikamente ein normales Leben führen. Er findet eine Anstellung als Lagerarbeiter, verlässt das Elternhaus und heiratet mit Ende zwanzig.
Im Leben seines Bruders habe die Krankheit lange Zeit keine Rolle mehr gespielt, erzählt Mustafa Karakas. Zehn Tage nach der tragisch geendeten Räumung sitzt der 46 Jahre alte Mann auf dem Balkon eines Mehrfamilienhauses in Rödelheim. Die Sonne scheint, auf einem Wäscheständer trocknen Hemden. Wenige Stunden vorher ist er von der Beerdigung des Bruders aus der Türkei wiedergekommen. Seine eigene Familie war nicht mitgeflogen.
Mustafa Karakas hat Ringe unter den Augen und raucht eine Zigarette. Er sagt: „Savas ist lange Zeit sehr stabil gewesen.“ Ende 2004 sei der Bruder mit seiner Frau nach Höchst gezogen. Sie mieteten eine kleine Wohnung in einem Reihenhaus: eine ruhige Lage mit Balkon, direkt vor dem Haus ein kleiner Spielplatz. Ein paar Monate später bekam das Paar einen Sohn. Die Nachbarn beschreiben ihn als freundlichen, hilfsbereiten Mann. Auf alten Fotos lächelt ein rundlicher Mann mit Halbglatze in die Kamera. Dann aber geriet sein Leben aus den Fugen.
Mustafa Karakas starrt in die Luft, während er leise und monoton seine Version der Geschichte erzählt. Ende 2012 verliert Savas Karakas seinen Job als Lagerist. Eigentlich ist das für die Familie kein finanzielles Problem. Karakas Frau arbeitet im Krankenhaus, er bekommt staatliche Unterstützung, und auch die übrige Familie bietet Hilfe an.
Doch kurz darauf kehren die Wahnvorstellungen zurück. Karakas glaubt, Opfer einer Verschwörung zu sein, seinem Bruder Mustafa wirft er vor, der habe ihn vergiftet. In dieser Zeit habe Karakas’ Zustand stark geschwankt, sagt sein Bruder. Oft sei er klar und ansprechbar gewesen. Wenn jedoch die Schübe kommen, zieht er sich in seine eigene Welt zurück.
Einige Monate später begibt sich Karakas wieder in Therapie. Seine Familie hat ihn immer darum gebeten. Er bekommt einen medizinischen Betreuer, und die Dosis der Tabletten wird erhöht. Karakas’ Zustand stabilisiert sich schließlich ein wenig, aber er findet keine Arbeit mehr. Die Eckdaten von alldem, was Mustafa Karakas erzählt, bestätigt der Betreuer später. Die Situation kippt ein Jahr vor Karakas’ Tod. Im Herbst 2016 macht er einen Gesundheitscheck. „Die Ärzte haben ihm gesagt, er sei körperlich gesund“, sagt Mustafa Karakas, „mein Bruder hat dann geglaubt, er brauche die Tabletten nicht mehr.“
Im Oktober 2016 stoppt Karakas die Medikamente, die sein Leben zusammenhalten. Die Schizophrenie erfasst ihn heftiger als je zuvor. Er glaubt, unbekannte Mächte wollten ihn zermürben. Er verdunkelt die Wohnung und zieht alle Stecker heraus. Seinen Bruder lässt er nicht mehr herein; er beschimpft seine Frau, behauptet, die wolle ihn umbringen. Mehrmals ruft die Ehefrau die Polizei. Weil ihr Mann aber nicht gewalttätig ist, können die Beamten nicht einschreiten. Das bestätigt die Staatsanwaltschaft.
Irgendwann lässt Karakas niemanden mehr an sich heran. Im Dezember 2016 zieht seine Frau mit dem Sohn zu einer Freundin. Die Nachbarn sagen, Karakas habe sich seitdem komplett isoliert. Er bekommt keinen Besuch mehr, raucht viel und lässt die ganze Nacht den Fernseher laufen. Karakas Eltern bringen ihm täglich Essen vorbei, sie sind sein einziger Kontakt.
Nachts fährt Karakas oft mit dem Fahrrad durch die Straßen, auch bei strömendem Regen. Wenn er auf die Nachbarn trifft, erzählt er ihnen zusammenhangslose Geschichten. Sie sagen, er sei nicht aggressiv gewesen, aber verwirrt. Die Besitzerin eines nahe gelegenen Cafés erzählt: „Im Winter haben wir einen neuen Zigarettenautomaten bekommen. Plötzlich tauchte Savas Karakas auf und beschimpfte uns.“ Weil er den Zigarettenautomaten nicht bedienen kann, glaubt Karakas, die Café-Mitarbeiter hätten sich gegen ihn verschworen. Mustafa Karakas sagt, in dieser Zeit habe er einige Male versucht, seinen Bruder zum Auszug zu bewegen. Er habe ihn in eine psychiatrische Einrichtung bringen wollen – immer vergeblich. Mustafa Karakas sagt auch: „Mein Bruder hatte Angst vor der Polizei.“
Die Räumungsklage ist schließlich die einzige Möglichkeit, um Karakas aus dem Haus zu holen. Denn seine Frau will endlich zurück in ihre Wohnung ziehen, hat aber Angst vor ihrem Mann. Ende Mai ruft der medizinische Betreuer bei Mustafa Karakas an. Er habe für Karakas ein Zimmer in einer Einrichtung für betreutes Wohnen bekommen. Am ersten Juni treffen sich deshalb Karakas’ Brüder gemeinsam mit dessen Frau und dem Betreuer vor dem Haus in Höchst. Sie wollen Karakas zum Gehen bewegen. Zwei Polizisten und ein Gerichtsvollzieher begleiten sie.
Brutal gegen die Wand gedrückt
Alle gehen zunächst gemeinsam in die Wohnung, um mit Karakas zu sprechen. Wegen der laufenden Ermittlungen werden sich Polizei und Gerichtsvollzieher zu dem, was dann geschah, später nicht äußern. Als die Polizisten die Räumungsklage verlesen, habe Savas Karakas sie ausgelacht, erzählt sein Bruder Hakan. Er sagt, sein Bruder sei gerade aus der Dusche gekommen und habe nur ein Handtuch getragen: einsachtzig groß, 140 Kilo schwer. Die beiden Polizisten rufen daraufhin Verstärkung, die Lage eskaliert. Ayse Karakas wird später erzählen, sie sei von der Polizei aus der Wohnung gedrängt worden. Die Frau trägt Blutergüsse an den Oberarmen davon. Das Attest eines Arztes belegt das.
Waren die Beamten auf die mutmaßlich heikle Situation vorbereitet? Auf Nachfrage gibt die Staatsanwaltschaft an, die Polizei habe von Karakas’ psychischen Problemen gewusst. Andreas Grün von der Polizeigewerkschaft GdP sagt: „Natürlich üben wir in der Ausbildung auch die Deeskalation, aber wir können eben nicht jeden Einzelfall trainieren.“ Letztlich müssten Polizeibeamte mit einem psychisch kranken Menschen umgehen wie mit jedem anderen auch: „Wenn jemand gewalttätig wird, müssen wir ihn ruhigstellen.“
Mustafa Karakas kann das nicht nachvollziehen: „Mein Bruder war kein Gewalttäter, er war ein schwerkranker Mann. Auf den kann man doch nicht einfach so losgehen.“ Hakan Karakas behauptet, die Polizisten hätten seinen Bruder brutal gegen die Wand gedrückt.
Der Psychologen-Verband „Kompetenznetz Schizophrenie“ forscht seit mehr als 20 Jahren zu dem Thema. Die Sprecherin der Organisation sagt, Polizisten müssten für solche Situationen besser ausgebildet werden. „Beamte sind im Umgang mit schizophrenen Menschen oft überfordert, es fehlt an spezifischen Schulungen.“ In anderen Bundesländern wie zum Beispiel in Berlin begleitet der psychosoziale Dienst solche Einsätze. In Frankfurt passiere das nur in wenigen Fällen, erläutert René Gottschalk, der Leiter des städtischen Gesundheitsamts. Nur wenn die Polizei explizit nachfrage, könne das Amt einen Psychiater mitschicken. Ob ein schizophrener Mensch bei einer Räumung besonders behandelt werde, hänge vom Einzelfall ab.
Am Abend des 1. Juni transportiert ein Leichenwagen Karakas’ Körper zur Obduktion. Das erste Gutachten kommt wenige Tage später: Karakas ist an Herzversagen gestorben, die Ursache bleibt unklar, Untersuchungen auf Medikamente und körperliche Probleme führen zu keinem Ergebnis; ein histologisches Gutachten steht noch aus. Am folgenden Dienstag fliegt Karakas’ Familie den toten Körper in die Türkei. Im Heimatdorf der Eltern wickeln sie die Leiche in weiße Laken und lassen ihn ins Grab herunter.
Mustafa Karakas hat sich einen Anwalt genommen. Er will als Nebenkläger in den Prozess gehen und sagt: „Aus der ganzen Türkei haben mir Menschen ihre Anteilnahme mitgeteilt, von den Deutschen habe ich bisher nichts gehört.“
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