Seit dem 1. April können georgische Staatsbürgerinnen und -bürger für 90 Tage visafrei in die Europäische Union einreisen. In Georgien wurde dieser Schritt lange herbeigesehnt. Denn trotz der Schwierigkeiten, mit denen die EU gerade zu kämpfen hat - von Schuldenkrise über Institutionenkrise bis hin zum Aufstieg des Populismus - ist sie für viele immer noch ein Sehnsuchtsort. In Tbilisi hat sich die Regierung viel Mühe gegeben, den Anforderungen der EU gerecht zu werden.
Dennoch ist die georgische Gesellschaft in ihrer Meinung zur EU gespalten. Glaubt man den Umfragen, ist Europa bei der georgischen Jugend sehr beliebt. Laut Caucasus Barometer haben 46 Prozent der 18 bis 35-Jährigen ein positives Bild von der EU, nur neun Prozent ein negatives. Die Generation über 56 Jahren steht der Union kritischer gegenüber: Hier sieht nur ein knappes Drittel der Befragten die EU positiv. Trotzdem gibt es auch unter den jungen Georgierinnen und Georgiern die Angst, dass die EU georgische Traditionen gefährdet. Wie passt das zusammen?
Im Folgenden werden vier junge Menschen aus Georgien vorgestellt, die von ihrem Verhältnis zu Europa, ihrer Identität und ihren Zukunftsplänen erzählen.
"Ich bin Georgierin und ich bin Europäerin. Das war nicht immer so. In Georgien Europäerin zu werden ist schwierig, weil hier alle so traditionell und konservativ sind. Eigentlich fühle ich mich erst europäisch, seitdem ich ein Jahr in Würzburg studiert habe. Ich liebe Bayern!
Ich glaube nicht, dass Georgien in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren der EU beitreten wird. Solange bis die Sowjetgeneration nicht mehr so einen großen Einfluss auf das öffentliche Geschehen hat. Ich wünsche mir eine engere Zusammenarbeit und die Einbindung in den Binnenmarkt der EU. Ich möchte einfach, dass Georgien ein europäisches Land wird. Dafür müssen wir noch viel tun, vor allem im Bereich Presse- und Meinungsfreiheit, aber auch die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten und Frauen beenden.
Mehr als 90 % der georgischen Bevölkerung gibt an, dass ihr Religion sehr wichtig ist.
Man ist hier noch sehr traditionsbewusst und eher rückwärtsgewandt. Tradition und Kultur sind für mich nicht das Gleiche. Ich bin stolz auf die georgische Kultur und ihre Eigenheiten, aber die traditionelle patriarchalische Gesellschaftsstruktur finde ich nicht gut. Viele Frauen haben gar nicht den Wunsch sich zu emanzipieren und geben sich mit der Rolle als Hausfrau und Mutter zufrieden.
Es ist gut, dass viele junge Akademiker ins Ausland gehen und mit neuen Erfahrungen und Ansichten wiederkommen. Das gibt der georgischen Gesellschaft neue Impulse. Nach meinem Abschluss will ich meinen Doktor in Georgien machen und noch einmal für ein Semester ins Ausland gehen. Außerdem will ich als Dozentin an verschiedenen Universitäten in Georgien arbeiten. Ich will die Studierenden über die EU informieren und das gegenseitige Verständnis fördern."
Simon (29), Sprachschüler in Irland„Ich bin in Georgien geboren und habe armenische Wurzeln. Mit 18 bin ich zum Studium nach Russland gegangen. Deshalb fühle ich mich weder als Europäer noch als Asiate. In Georgien kommt einfach alles zusammen und es gibt viele Überschneidungen. Letztendlich sind wir aber alle Teil der Menschheit.
Es war nicht leicht, in den 90er Jahren mit einem armenischen Nachnamen in Georgien aufzuwachsen. Als ich zum Beispiel in den Kindergarten kommen sollte, wurde ich aufgrund meines Namens abgewiesen. Die Leiterin sagte meiner Mutter, sie solle wiederkommen, sobald sie meinen Nachnamen ins Georgische übertragen habe. Trotz allem ist Georgien meine Heimat und irgendwann will ich mich dort wieder niederlassen. Bis dahin will ich noch weitere Erfahrungen im Ausland sammeln und der georgischen Gesellschaft selbst positive Impulse vermitteln. Bereits jetzt engagiere ich mich aktiv für eine lebendige Debattenkultur in Georgien. Ich moderiere eine Facebook-Gruppe, in der über Xenophobie in Georgien diskutiert wird und für das Thema sensibilisiert werden soll.
In Georgien leben etwa fünfzig verschiedene ethnische Minderheiten. Den größten Anteil machen die Azeris (6,5%), Armenier (5,7%) und Russen (1,5%) aus.
Die Europäische Union hat nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle und politische Bedeutung für uns. Die Visa-Liberalisierung ist gut für uns. Grenzen zwingen Menschen, Risiken einzugehen. Ich hoffe, dass es die vielen Georgier, die sich auf den Weg nach Europa machen, um dort ihren Platz unter der Sonne zu finden, nun einfacher haben werden. Insbesondere jene, die aus wirtschaftlichen Gründen Georgien verlassen, müssen dann vielleicht eines Tages keine Schlepper mehr bezahlen, um in Griechenland oder Italien illegal zu arbeiten.
In der georgischen Gesellschaft gibt es viele Defizite, die behoben werden müssten, um eine Annäherung an Europa zu erreichen. Europa ist für mich aber nicht nur die EU, sondern viel umfassender, die Schweiz und Norwegen gehören ja schließlich auch dazu.
Man muss noch viel bei der Aufarbeitung der Vergangenheit tun. Georgien als Stalins Geburtsland begibt sich allzu oft in eine Opferrolle, anstatt das vergangene Jahrhundert selbstkritisch zu reflektieren.
Um europäisch zu werden, müssen aber auch die gesellschaftlichen Schichten in Georgien besser zusammenarbeiten. Oft schaut eine Gruppe auf die andere herab, Männer auf Frauen, die Städter auf die Landbevölkerung, Angestellte auf die unteren Arbeiter. Auch der Generationenkonflikt ist ausgeprägt. Viele Ältere müssen sich noch etwas zur mageren Rente dazu verdienen, um über die Runden zu kommen. Das Sozialsystem muss dringend reformiert werden."
Nino (25), Kreditberaterin in Baghdati„Ich würde mich gern als Europäerin fühlen, kann es aber nicht. Das Leben hier ist eher trostlos. Ich habe zwar eine Stelle als Kreditberaterin in einer Bank, doch viele andere finden keine Arbeit. Deshalb zieht die Jugend von hier weg. Um meine Freunde zu treffen, fahre ich an den Wochenenden nach Kutaissi [der zweitgrößten Stadt Georgiens]. Was wir brauchen, sind mehr Arbeitsplätze in der Region, bessere Gehälter und mehr Bildung.
Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist noch sehr präsent, obwohl ich mich nicht diskriminiert fühle. Ich lebe noch bei meiner Familie, weil ich nicht verheiratet bin. Die georgische Gesellschaft ist eben sehr traditionsbewusst und konservativ. Die Kirche spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Patriarch ist beliebter als jeder Politiker!
Georgien muss Verbesserungen aus eigener Kraft schaffen, doch ich hoffe, dass die EU hier Anreize setzt. Als EU-Mitgliedsland müsste Georgien bestimmte Standards erfüllen. Erst dann werde ich das Gefühl haben, dass Georgien wirklich zu Europa gehört. Die Visafreiheit ist ein erster Schritt in diese Richtung. Ich würde am liebsten nach Paris reisen. Das bleibt jedoch aufgrund meines geringen Gehalts erst einmal Wunschdenken.
2014 betrug laut ILO die Jugendarbeitslosigkeit in Georgien 34,1 Prozent.
Die EU kann ebenfalls von einer Mitgliedschaft Georgiens profitieren. Nicht ökonomisch, aber kulturell. Georgien könnte sich dadurch in Europa präsentieren und die Europäer würden hoffentlich neugierig auf unser Land im Kaukasus werden. Mehr Touristen würden auch unserer Wirtschaft helfen und wir könnten unsere Traditionen austauschen. Viel Wein zu trinken, ist so eine Tradition, wenn auch keine gute."
Erekle (17), Schüler aus Gori„Ich fühle mich als Europäer und das sollten alle Georgierinnen und Georgier tun. Für mich ist es selbstverständlich, dass Georgien zu Europa gehört. Deshalb sollte Georgien unbedingt Mitglied der EU werden. Dafür gibt es im Moment aber noch zu viele Hürden. Vor allem die Skepsis gegenüber Ausländern bis hin zu offener Diskriminierung ist ein großes Problem, ebenso wie die soziale Situation. Allerdings versucht die Regierung alles Schritt für Schritt zu verbessern.
Ich bin in Gori aufgewachsen und habe als Kind den Krieg mit Russland miterlebt. Bald will ich in Tbilisi mein Studium aufnehmen, entweder Politikwissenschaften oder Internationale Beziehungen. Ich möchte in die Politik gehen, entweder als aktiver Politiker oder als Diplomat. Ich bin aber kein Mitglied in einer Partei, weil ich mich von keiner der Parteien vertreten fühle.
Ich sehe der Zukunft meines Landes optimistisch entgegen. Wir wollen alle Europäer sein, und versuchen es wirklich, obwohl die Älteren sich nach den vermeintlich glorreichen Zeiten der Sowjetunion zurücksehnen. Vor allem die Befürchtung, Georgiens Kultur würde bei einer engeren Anbindung an die EU verloren gehen, ist bei ihnen sehr präsent. Das müssen wir ändern! Ich glaube, wenn man die ältere Generation mehr über die EU und die Chancen für Georgien informiert, würden sie ihre Sichtweise ändern.
18 % der Georgier im Alter von 18 bis 35 Jahren können es sich vorstellen, für immer im Ausland zu leben.
Im Gegensatz zu den Älteren muss man die Jungen nicht mehr von Europa überzeugen. Viele werden die Visaliberalisierung nutzen, um nach Europa zu reisen. Ich hoffe, dass sie die gängigen Klischees vom georgischen Kleinkriminellen widerlegen und ein positives Bild von Georgien vermittelt wird. Es gibt außerdem viele Projekte und Trainings für Jugendliche. Ich habe zum Beispiel erst kürzlich an der Simulation des Europäischen Jugendparlaments teilgenommen.
Für die Zukunft Georgiens wünsche ich mir eine weitergehende Demokratisierung und eine offenere Gesellschaft. Das Potential dazu ist in jedem Fall vorhanden. Dabei setze ich voll und ganz auf meine Generation."
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