29. August 2001: München-Ramersdorf. Habil K. (38) wird in seinem Obst- und Gemüseladen erschossen. 15. Juni 2005: München-Westend. Theodoros B. (41) stirbt in seinem neu eröffneten Geschäft durch drei Kopfschüsse.
Lange Zeit herrscht Unklarheit über die Mordmotive. Verbrechen im Rahmen von „organisierter Kriminalität" oder „Verstrickungen ins Drogenmilieu", vermutet man. Auch Familienmitglieder der beiden Ermordeten gelangen unter Verdacht. Die Boulevardpresse titelt: „Türken-Mafia schlug wieder zu". Erst 2011, nach der Selbstenttarnung des NSU, wurde der rechtsterroristische Hintergrund der beiden Morde aus München und acht weiteren in Deutschland bekannt. Seit Mai 2013 läuft nun der NSU-Prozess in München am Oberlandesgericht.
Christine Umpfenbachs Inszenierung Urteile ist ein dokumentarisches Theaterprojekt und beschäftigt sich mit den Angehörigen der Opfer und wie diese Befragungen, Verdächtigungen und Anschuldigungen erlebt haben. Dafür hat Umpfenbach mit Journalisten und Anwälten, aber auch Freunden, Arbeitskollegen und Verwandten der beiden ermordeten Männer gesprochen. Dokumentarisches Theater, das kann die Regisseurin gut. Es geht ihr um die Nähe zu den Menschen. Bereits in ihrer Inszenierung Gleis 11, in der es um die Gastarbeiter aus den 60er-Jahren in München geht, begeisterte sie das Publikum an den Münchner Kammerspielen.
„Es kann nicht sein, was nicht sein darf" - Zeugin im NSU-Untersuchungsausschuss
Nur drei Schauspieler gibt es in Urteile, welches auf der kleinen Bühne im Marstall gespielt wird. Ganz nah ist man als Zuschauer am Geschehen dran. Paul Wolff-Plottegg, Gunter Eckes und Demet Gül schlüpfen abwechselnd in verschiedene Rollen: Priester, Journalistin, Tochter, Schwiegermutter oder Bruder. Aus welcher Perspektive gerade berichtet wird, erfährt das Publikum durch eine Leuchtleiste am Boden, auf der die Rolle, die der Schauspieler einnimmt, eingeblendet wird.
Dass nicht sein kann, was nicht sein darf, sagte eine Zeugin im Untersuchungsausschuss. Und doch ist es passiert, wie in einer verkehrten Welt. Diese Umkehrung könnte der imposante Baum verkörpern, der während der ganzen Vorstellung verkehrt herum von der Decke über den Szenen schwebt. Er ist entwurzelt. Bis auf eben diesen Baum bleibt das Bühnenbild eher nüchtern und dunkel: ein Tisch, Stühle und Bänke. Vor dieser Kulisse lässt die Regisseurin das Publikum durch die Schauspieler erleben, wie mit den Angehörigen der Opfer des NSU umgegangen wurde. Dabei spielen die drei Schauspieler weniger, sondern stellen die Personen viel mehr stellvertretend dar. Die unscheinbaren, aber authentischen Kostüme lassen die Menschen gerade deshalb echt wirken. Als ob sie gerade aus ihrem Alltag entrissen wurden, um zu erzählen.
„Einer war Schneider, der andere war Blumenhändler, der dritte war Lebensmittelhändler, und die Polizei macht 'ne Dönerbude auf in Nürnberg und zahlt die Schulden nicht, um zu gucken, ob jemand einen abknallt."Freunde und Familienmitglieder der beiden Männer aus München waren lange Zeit Verdächtigungen und Anschuldigungen ausgesetzt. Statt trauern zu dürfen, wurde der ohnehin schon große Schmerz zu einer scheinbar nie endenden Qual, die sich durch die Medien und sogar durch das eigene Umfeld ins Unermessliche steigerte. Da erfährt man wie die Schulsekretärin solche Dinge von sich gab wie: „ Unter Gemüsehändlern,... so was wurde gesagt... Familienfehde! ". Diese und noch weitere Aussagen, sind der Beweis dafür, wie einfach sich falsche Urteile verbreiten ließen und wie gefestigt Vorurteile sind. Selbst die Polizei bestärkte diese Vorurteile, indem sie eine Dönerbude eröffnete, die Schulden nicht zahlte und abwartete, ob etwas passierte, das man in die Türken-Mafia-Schublade stecken konnte. Dem war nicht so.
Der Zuschauer erfährt aber noch mehr. Er erfährt von den vielen kleinen Morden, die nach dem Tod der Angehörigen zum Alltag gehörten. Dass sich Nachbarn und Kollegen abwandten. Dass aus dem Untersuchungsausschussbericht zu entnehmen war, dass die Art des Mordes nichts mit den Wertvorstellungen eines Deutschen zutun haben kann und die Tat deshalb nur von einem Ausländer verübt worden sein könnte. Dass der Bruder des verstorbenen Theodoros B. mit seiner Frau, das Blut im Laden mit einem Spachtel selbst entfernen musste: „ Ich und meine Frau haben kniend mit Spachteln sein Blut weggekratzt, und dann haben wir dieses Blut an einen Baum vor unserem damaligen Haus, sag ich mal, reingelegt. Ich gehe oft mit meiner Frau spazieren und wir besuchen den Ort." Dies sind nur wenige von vielen unfassbaren Aussagen, die man im Stück zu hören bekommt. Die Diffamierung der Hinterbliebenen endete erst 2011 mit der Enthüllung des NSU. Während die Angehörigen, die Freunde, der Großmarkthändler und viele andere erzählen, sitzen auf der einen Seite der Bühne zwei Polizisten und hören zu. Am Ende des Stücks verlassen diese, wie die Schauspieler, die Bühne. Sie waren eben nur Statisten.
Christine Umpfenbach und Dramatikerin Azar Mortazavi haben mit Urteile ein Stück geschaffen, das alle etwas angeht. Es stellt die Angehörigen nicht zur Schau, sondern nimmt sich ihren schrecklichen Erfahrungen auf berührende, aber nüchterne Art an und erzählt sie dem Münchner Publikum. Dafür braucht es keine aufwendige Inszenierung. Gerade die Schlichtheit ermöglicht die Nähe zum Zuschauer, der passend dazu auch mal frontal von den Schauspielern angesprochen wird.
Ornella Cosenza