NDR-Doku über Prostituierte von Olivier David
Erst wurde der Film gefeiert, mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet und für den Grimme-Preis nominiert. Nun steht „Lovemobil" plötzlich für einen Fälschungsskandal und seine Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss am Pranger.
Der vom NDR koproduzierte Film begleitet angebliche Sexarbeiterinnen, die ihre Dienstleistungen in Wohnmobilen an einer niedersächsischen Landstraße anbieten. Doch das ebenfalls zum NDR gehörende Magazin „Strg_f" hat in dieser Woche aufgedeckt, dass der Film in weiten Strecken auf Szenen basiert, „die nicht authentisch sind", sondern inszeniert wurden. Manche der Protagonist*innen sind keine Prostituierten und keine Freier sondern: Schauspieler*innen. Kenntlich gemacht wurde das im Film nicht - was offenbar selbst den Mitwirkenden teilweise nicht bewusst war.
Das hat eine Debatte ausgelöst, was im Dokumentarfilm geht - und was nicht. Nur könnte sie allzu schnell versanden, denn in den Texten vieler Medien ist die nahezu alleinige Schuldige schnell gefunden: die „Lovemobil"-Regisseurin Lehrenkrauss.
Hat jemand Relotius gesagt?Es steht ein Elefant im Raum. Er hört auf den Namen Claas Relotius. Er ist da, auch wenn sich manche Berichte von „taz" über die „Süddeutsche" bis zur „Zeit" bemühen, ihn nicht zu benennen.
Andere sprechen es aus, wie SZ-Autor Willi Winkler, der meint, dass „Lovemobil" „weit oben auf der Relotius-Skala" liege und sogar von einer „relotionären Dokumentation" spricht. Die Parallele zwischen den Verfehlungen Lehrenkrauss und dem „Fälscherskandal" Relotius beim „Spiegel" zu ziehen, schreibt die „Welt", wirke reflexhaft, sei aber zulässig.
Seit 2018 steht der Fall Relotius im Journalismus synonym für Fälschungen, fürs Zurechtbiegen von Geschichten, eigentlich für die Verkommenheit einer Branche. An wem Vorwürfe à la Relotius haften bleiben, der gilt als verbrannt.
Die „authentischere Realität"Und so zerstörerisch der Vergleich klingt, auf den ersten Blick liegt er auf der Hand. Bei Lehrenkrauss ist es der Glaube an die „authentischere Realität", bei Relotius waren es die Geschichten, die „larger than life" sein mussten.
In beiden Fällen brauchte es externe, freie Mitarbeiter, um die Wahrheit ans Licht zu bringen: Juan Moreno, der Relotius' Lügen aufdeckte, im Fall von „Lovemobil" war es die freie Editorin Irem Schwarz, der erste Zweifel kamen.
Man kann über Fehler reden, darüber, warum die Regisseurin die Szenen nicht gekennzeichnet hat, über einen fragwürdigen Begriff von Authentizität und Wahrheit. Doch im Vergleich mit Relotius, gibt es in der Causa Lehrenkrauss, außer der augenscheinlichen Gemeinsamkeit, dass beide den Wahrheitsbegriff großzügig auslegen, nichts zu holen.
Lehrenkrauss, so stellt es nicht nur sie selbst dar, das bestätigt auch ihre Dozentin Sabine Rollberg gegenüber Übermedien, leistete jahrelange Recherchearbeit, während Relotius dutzendfach die Charaktere, die Handlungsstränge, die Dramaturgie am Reißbrett entwarf. Nicht umsonst spricht Juan Moreno in „Tausend Zeilen Lüge" von einem System Relotius.
Was hätte der NDR sehen müssen?Noch am Dienstag, dem Tag der Ausstrahlung des „Strg_f"-Films wurde die Nominierung für den Grimme-Preis zurückgezogen. Am Mittwoch gab die Regisseurin Elke Lehrenkrauss den deutschen Dokumentarfilmpreis zurück. Was als kometenhafter Start in der Dokumentarfilmbranche begann, endete durch die Enthüllung des NDR in einem Sturzflug, bei dem keiner der Beteiligten eine gute Figur abgibt.
Olivier David hat bei der „Hamburger Morgenpost" volontiert. Heute scheibt er als freier Autor unter anderem für die Tageszeitung „Neues Deutschland". Ende 2021 kommt sein erstes Buch heraus, das von den Auswirkungen von Armut auf die Psyche handelt.
Auf der Suche nach der Wahrheitsfindung darf der Blick nicht nur Lehrenkrauss gelten. Wenn man „Lovemobil" mit dem Wissen sieht, dass dort Darsteller Rollen spielen, dann schreit einen das Offensichtliche an: Männer, die sich dabei filmen lassen, wie sie mit Sexarbeiterinnen intim werden - wer bitteschön würde sich dabei filmen lassen?
Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Klar. Doch nicht nur wer schon einmal versucht hat, im Milieu von Sexarbeiter*innen zu recherchieren, muss bei solchen Szenen unbedingt stutzig werden. Hat also die Redaktion des NDR versagt? War die Story nicht zu schön, um wahr zu sein, sondern gerade schön genug, um wahr zu sein?
In der Enthüllungsdoku von „Strg_f" gibt der betreuende Redakteur Timo Großpietsch, selbst studierter Dokumentarfilmer, keine gute Figur ab. Er gibt das Bild eines überrumpelten Redakteurs ab, der die Verantwortung abschiebt, der ausweicht. Erst auf Nachfrage - „also hat die Redaktion alles richtig gemacht?" - stellt er selbst die Frage in den Raum, wann er was hätte merken müssen. Eine Antwort bleibt er den Zuschauern des Films schuldig.
In einer Stellungnahme des NDR wird Großpietschs Sprachlosigkeit gleich ein ganzer Koffer journalistischen Handwerkszeugs entgegengesetzt, der dabei helfen soll, solche Situationen gar nicht entstehen zu lassen:
„Dazu gehören unter anderem ein Vier-Augen-Prinzip von Produktion und Redaktion, sorgfältige Abnahmen, Plausibilitäts- und Faktenchecks, stichprobenartige Detailprüfungen von Produktionen. Alle Filme werden im NDR redaktionell - und manchmal auch juristisch - abgenommen. Dabei achtet die Redaktion auf die Dramaturgie der Filme, aber auch auf Faktentreue und Plausibilität des Gezeigten oder Gesagten. Wenn etwas unklar ist, wird nachgefragt."
Stefan Schwietert, Professor für Dokumentarfilmregie an der Filmuniversität Babelsberg, sieht ein systemisches Problem. „Alles, was der Sender in seinem Statement gesagt hat, ist richtig", sagt er am Telefon. „Trotzdem würde man sich wünschen, dass der NDR die Frage etwas grundsätzlicher angeht und sich kritischer mit der eigenen Rolle auseinandersetzt."
Spektakulär gewinnt - auch beim DokumentarfilmSeit rund zwei Jahrzehnten gibt es immer weniger Sendeplätze für Dokumentarfilme. In der Branche herrscht ein großer Druck, die begehrten Filmförderungen zu bekommen. Weniger Sendeplätze führen zu mehr Wettbewerb - und da wo Wettbewerb ist, ist auch der Erwartungsdruck nicht weit.
Redaktionen heutzutage, nicht nur die des NDR, erwarten von Dokumentarfilmregisseur*innen vorab ein Exposé oder ein Treatment, wie der Film auszusehen habe. Daran werden die Filmemacher*innen später gemessen. Keiner, so Schwietert, wolle die Katze im Sack kaufen. Das entschuldigt Lehrenkrauss' Fehler nicht, ist aber wichtig, um die Gemengelage nachzuvollziehen, in der Filmemacher*innen agieren.
„Der Dokumentarfilm in seiner ergebnisoffenen und rein beobachtenden Form ist durch diesen Wettbewerb an den Rand gedrückt worden", sagt Sabine Rollberg. Da wo Dokumentarfilme journalistischen Charakters als „zu langweilig und zu langatmig" gelten, da hat die Stunde der subjektiveren, der poetischen, der künstlerischen Dokumentarfilme geschlagen. Hier reiht sich ohne Frage auch „Lovemobil" ein. Der Film will Machtstrukturen aufzeigen, marginalisierten Stimmen Raum geben.
Beide Fachleute, Schwietert und Rollberg sehen, dass Lehrenkrauss Fehler gemacht habe, nun werde sie aber als „Sündenbock durch die Republik gehetzt", sagt Rollberg. Sie sieht die Schuld beim NDR:
„Es ist wie beim Doping: Alle profitieren vom System, aber wenn es auffliegt, will es keiner gewesen sein."
Irene Klünder, Leiterin des SWR Doku Festivals, hofft in der „Zeit" trotzdem auf „eine Chance für den Dokumentarfilm, in dem offen die Transparenz und die Frage nach Authentizität diskutiert wird." Dafür muss ein Gespräch geführt werden darüber, was Dokumentarfilm darf, was er ist; ein Dialog zwischen Purist*innen und poetischen Dokumentarfilmer*innen, zwischen Journalist*innen und Künstler*innen.
„Wenn wir uns jetzt vom Beispiel ‚Lovemobil' etwas entfernen, stellen wir fest, dass wir nicht nur mit Kriterien bewertet werden wollen, die aus dem Journalismus kommen", formuliert Stefan Schwietert einen Wunsch, der es durch die Aufregung um „Lovemobil" schwer haben könnte.