Theater und Low-Budget-Filmer umgehen den Mindestlohn mit kreativen Verträgen. Wer ihn bisher nicht bekam, kriegt auch jetzt keine 8,50 Euro pro Stunde. Schlimmstenfalls bekommt er gar nichts mehr.
Diana Hellwig war den ganzen Tag auf Location-Suche, ist durch Wälder gestapft, hat mit Grundstücksbesitzern verhandelt und sich um Drehgenehmigungen bemüht. Doch das ist nicht die einzige Baustelle: „Wir brauchen jetzt eigentlich alles kostenlos", sagt die Studentin der Filmhochschule Babelsberg in Potsdam. Hellwig studiert dort Film- und Fernsehproduktion. Mit kleinen Budgets soll sie große Filme ermöglichen. Sie steht momentan unter Strom.
Seit dem 1. Januar 2015 gilt das Mindestlohngesetz. Für jede Stunde Arbeit fallen seitdem mindestens 8,50 Euro an. Ausnahmen gibt es für Freiberufler und Selbstständige, Minderjährige und ehrenamtlich Tätige. Auch bei ausbildungsbezogenen Pflichtpraktika mit einer Dauer von höchstens drei Monaten muss nichts gezahlt werden.
In der freien Wirtschaft wehrte man sich gegen das Mindestlohngesetz mit einem historisch so gerne wie häufig zitierten Argument: Zahle man mehr, so büße man Wettbewerbsfähigkeit ein, was unweigerlich zu Entlassungen führe. Inzwischen gilt die Lohnuntergrenze, und die Frankfurter Börse steht noch. Denn Dax-Unternehmen können es sich leisten, ihren Praktikanten den Mindestlohn zu zahlen.
Doch im Kulturbetrieb gelten andere Gesetzmäßigkeiten. Schon jetzt zeigt sich, dass die Ausnahmen eine alte Regel bestätigen: Not macht erfinderisch. Der Trend: Arbeit wird zum Ehrenamt, und Praktikanten gehen weiterhin leer aus.
„Bisher haben wir unsere Schauspieler ausgezahlt, wenn der Film anlief und Geld einspielte. Jetzt müssen wir das Gehalt schon vorher aufbringen", erklärt Hellwig. Die so genannten Verträge auf Rückstellung sind nicht mehr erlaubt, wenn nicht zusätzlich der Mindestlohn gezahlt wird. Abhängig von den Fördergeldern des Landes stehen in Babelsberg etwa 6000 Euro Barmittel für eine Produktion zur Verfügung. Alles Weitere muss eingeworben werden.
Auch in der Vergangenheit war das oft knapp kalkuliert. Der Mindestlohn schnürt das Korsett jetzt noch enger: „Je mehr Mitarbeiter es gibt, desto schneller ist das Budget ausgereizt." Schauspieler, Medienpädagogen, Spezialtechniker - sie alle müssen nun im Voraus bezahlt werden.
Zwar können Studierende der Hochschule sowie Praktikanten, Kinder und Ehrenamtliche auch weiterhin ohne Lohn mitarbeiten, doch damit ist es nicht getan: „Filme leben davon, einen Querschnitt der Gesellschaft abzubilden", sagt Hellwig. „Daher können wir auf ältere Darsteller nicht verzichten."
Und weil man sich in Babelsberg nicht am Laienspiel orientiert, sondern Filme produziert, die es bis zur Berlinale oder zum Deutschen Filmpreis schaffen, sind professionelle Schauspieler gefragt, die ihre Ausbildung hinter sich haben. Die Rückstellung bot bisher die Möglichkeit, hochkarätigen Darstellern einen Verdienst in Aussicht zu stellen, ohne die niedrigen Budgets zu sprengen. Damit ist Schluss.
Filmstudenten in Babelsberg, Ludwigsburg und an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin sind nun auf kulante Schauspielagenturen angewiesen, auf Schauspieler, die den Nachwuchs fördern wollen, sich für ein Projekt begeistern oder die den Dreh als Werbung in eigener Sache sehen. Wer auf diese Weise zum Ehrenamt kommt, unterschreibt einen Vertrag, der definiert, worin der ehrenamtliche Charakter der Arbeit besteht. Obwohl das Engagement freiwillig erfolgt, ist festgeschrieben, dass den Anweisungen von Produktionsleitung und Hochschule Folge geleistet werden muss. Unverbindlich klingt anders.
Auch die Bühnenbetriebe haben zu kämpfen. Die Probleme beginnen im hierarchischen Niemandsland. Schon Praktikanten fordern Theater und Orchester finanziell heraus. Denn bis auf wenige Ausnahmen wird in der staatlich subventionierten Kulturbranche mit geringen Budgets gearbeitet, stets an der Grenze zur Pleite. Theater, Orchester, Opernhäuser - sie alle leben von der Kulturförderung.
Ein Theater, das dank Kultursubventionen keinen Verlust macht, ist wirtschaftlich erfolgreich. „Das sind Einrichtungen, die auf Zuschüsse angewiesen sind", erklärt Rolf Bolwin. Er ist Direktor des Deutschen Bühnenvereins, der fast alle deutschen Theater, Opernhäuser und Orchester vertritt. Wenig überraschend forderte der Arbeitgeberverband weitere Ausnahmen für seine Klienten, noch bevor der Bundesrat dem Gesetz zustimmte - ohne Erfolg. Nun wird der finanzielle Notstand nach unten weitergereicht. So gehen gerade die weiterhin leer aus, die vom Mindestlohn profitieren sollten.
Selbst in den Opernhäusern, die in der Kulturförderung mit üppigen Haushalten zu Buche schlagen, werden altgediente Strukturen unbrauchbar. Bislang bekamen Statisten, Laiendarsteller und Extrachöre häufig eine kleine Aufwandsentschädigung. Inzwischen sieht man diese Menschen, nicht nur an der Oper, als Liebhaber - und ihre Tätigkeit als Ehrenamt. In der Regel heißt die Belohnung nur noch: Mitmachen.
In der Gewerkschaft Ver.di teilt man diese Auffassung nicht: „Das sind alles Leute, die früher einen irgendwie gearteten Arbeitsvertrag hatten. Und sei es nur, dass sich Statisten vor Beginn einer Aufführung in eine Liste eingetragen haben. Das waren keine Tätigkeiten, bei denen ich selbst entscheide, wann und wo ich erscheine. Dass das jetzt als Ehrenamt definiert wird, ist ein Freifahrschein, um den Mindestlohn zu umgehen", sagt Frank Schreckenberg, der bei Ver.di für Theater und Bühnen verantwortlich zeichnet.
Aber was ein Ehrenamt ausmacht, ist im neuen Gesetzestext nicht klar definiert. Deshalb führt der Mindestlohn im Kulturbetrieb dazu, dass das Ehrenamt von der willkommenen Hilfe zur Voraussetzung mutiert. Auch Stefan Körzell aus dem Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds ist inzwischen überzeugt, dass die Ausnahmen über das Ziel hinausschießen: „Je mehr Ausnahmen es gibt, desto schwieriger wird es, zu kontrollieren, ob die Bestimmungen eingehalten werden."
Doch es ist vielmehr so, dass die Bestimmungen dehnbar sind - während die Arbeitgeber unter finanziellem Druck stehen. In diesem Spannungsfeld wird die Umgehung zur Praxis. Wer nicht unter die Ausnahmeregelungen fällt, hat das Nachsehen. Denn wo der Mindestlohn unausweichlich ist, werden Stellen meist gar nicht mehr angeboten.
Bundesweit haben Theater und Orchester Langzeitpraktika gestrichen. Eine komplette Spielzeit mitzuerleben ist jetzt kaum noch möglich. Das erschwert auch den Berufseinstieg: „Praktika von mehreren Monaten waren bisher ein Weg, um zu einer Anstellung an einem Theater zu gelangen", beklagt Rolf Bolwin den Wegfall dieser Stellen.
An der so genannten Freien Szene geht der Mindestlohn gleich ganz vorbei. Die finanziellen Mittel sind hier noch knapper als an den staatlichen Bühnen. Schon 2012 formierte sich in Berlin die Koalition der Freien Szene aller Künste, um auf die prekären Lohnverhältnisse der meist freiberuflichen Kulturschaffenden aufmerksam zu machen.
„Ein Choreograf hat zwei Möglichkeiten, wenn er inszenieren will", sagt Christoph Knoch, der Sprecher des Interessenverbands. „Entweder er stellt die Leute ein, oder er schaut, wie er das umgehen kann." Und weil ein Arbeitsvertrag Mindestlohn und Sozialabgaben bedeutet, wählen nicht nur Choreografen die zweite Möglichkeit. Die Einkommen bleiben prekär, weil Freiberufler vom Mindestlohn ausgenommen sind, weil es keine Untergrenze für Gagen gibt und weil die freie Szene chronisch unterfinanziert ist.
Aus Sicht der Gewerkschaften sind es zu viele Ausnahmen, aus Sicht des Kulturbetriebs sind es zu wenige. Klarheit - und da sind sich alle Beteiligten ausnahmsweise einig - werden erst Gerichte schaffen. In jedem Fall führt das Mindestlohngesetz dazu, dass Arbeitgeber versuchen, den zusätzlichen Kosten auszuweichen. Das Problem: Es werden keine weiteren Mittel zur Verfügung gestellt, um die entstehenden Kosten aufzufangen.
Deshalb etablieren sich statt des Mindestlohns vor allem die Ausnahmen - und damit die Lohnfreiheit. Auch bei Filmstudentin Diana Hellwig zeigt sich, was durch den Mindestlohn im Kultursektor zum Symptom wird: „Ohne Ehrenamtliche und Praktikanten könnte ich keine meiner Produktionen realisieren."