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Reportage spécial

Springsteen and I


Man kann sich vorstellen, dass es dem „hardest working man in show business“ sehr schwer fallen muss, in den Tagen rund um seinen 74. Geburtstag nicht auf der Bühne stehen zu können. Mitten in seiner Tour mit mehr als 90 Konzerten zwingt ein Magengeschwür Bruce Springsteen und seine E Street Band zu einer Pause.

„Springsteen and I“ heißt ein Dokumentarfilm, der aus der Sicht von Springsteen-Fans erzählt ist und viel von dem deutlich macht, für die der Mann steht: der Geschichtenerzähler, der politische Songwriter, der für die Armen und Unterprivilegierten spricht (obwohl er natürlich längst Multimillionär ist). All diese Geschichten, die kleinen und großen, die stillen und die spektakulären, machen letztlich den Mythos Bruce Springsteen aus.


In meiner persönlichen, kleinen Springsteen-Geschichte spielt das Konzert im Berliner Olympiastadion im Juni 2016 eine besondere Rolle. Es war eine schwere Zeit für mich und meine Familie: Meine Frau war erneut an Krebs erkrankt, unser Alltag und unser Denken drehte sich um Operationen, Chemotherapien, Blutwerte und schlecht Prognosen. Und dann dieses Konzert! Ich traf einen Freund, den ich immer bei Springsteen treffe, er fragte, wie es uns ginge, mitfühlend und freundschaftlich.


Aber mit den ersten Takten von „Adam Raised a Cain“ begann für mich eine echte Auszeit vom Stress und von der Angst. Es gelang dem kleinen Mann auf der Bühne mit seinen Musikern und Musikerinnen, die nicht umsonst als eine der besten Livebands der Welt gelten, mich in eine andere Welt mitzunehmen. Die schiere Energie, die von der Bühne übersprang, fesselte mich, bis nach gut dreieinhalb Stunden die letzten Akkorde von „Thunder Road“ durch das Stadion schallten. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich ein paar Monate später Springsteen die Hand schütteln würde und dass meine Frau nicht mehr leben würde, um davon zu erfahren.


Stehblues und Coca-Cola


Ich gehöre zu den nicht wenigen Fans, die in den 80er-Jahren auf Springsteen stießen, als er mit dem Album „Born in the USA“ endgültig zum Megastar wurde. Es war auf einer der vielen Feten, die wir damals im Dachgeschoss einer Schulfreundin feierten, mit Stehblues und Coca-Cola. Damals lief der Afrika-Hilfssong „We Are The  World“ rauf  und runter. An einer Stelle im Song wies mich eine Klassenkameradin darauf hin, dass da gerade Bruce Springsteen sänge. Das ikonische „Born in the USA“-Cover mit dem Jeans-Hintern und der US-Flagge war allgegenwärtig. Schon damals war mir Springsteen näher als Michael Jackson, der zeitgleich Welterfolge feiert. Jackson war leicht, schwebend, nicht von dieser Welt; Springsteen war (und ist) der Rock-Arbeiter, der auf der Bühne schuftet und rackert.


Bei einer Sprachreise nach England kaufte ich in London das Album „Darkness on the Edge Town“ auf Musikkassette und hörte die Songs auf der Rückfahrt per Walkman. Schon das Cover zeigt einen anderen Springsteen: da lehnt ein vielleicht skeptischer, vielleicht schüchterner Typ mit wirren Haaren an einem Fensterrahmen, die Scheibe durch eine Jalousie verdeckt. Keine Flaggen, keine Blue Jeans, sondern Sepia, Schwarz, Braun und eine vergilbte Tapete bestimmen das Bild. Und der Albumtitel ist programmatisch: Springsteen erzählt von der kleinen Stadt, von den dunklen Rändern, von der Dunkelheit.


Figuren am Rande der Gesellschaft


Es war also an der Zeit, nicht nur auf die Musik zu hören, sondern auf die Texte. Wenn ich mich nicht täusche, waren bei allen Springsteen-Alben bis auf eins („The Wild, the Innocent and the E Street Shuffle“) die Songtexte abgedruckt. Keine Selbstverständlichkeit und natürlich kein Zufall. Denn der Mann aus New Jersey, der selbst aus sehr einfachen Verhältnissen stammt, ist ein großer Geschichtenerzähler. Seine Figuren sind meist die am Rande der amerikanischen Gesellschaft: Vietnamveteranen, Kriminelle, Prostituierte, Einsame, Verletzte. 


Im Album „The Ghost of Tom Joad“ (1995) knüpft er an John Steinbeck an – Tom Joad ist eine Figur aus „Früchte des Zorns“. Er erzählt von den Migranten, die aus Mexiko die Flucht über die Grenze nach Amerika versuchen. Er erzählt von den „Black Cowboys“, die nur selten in den Western in Kino zu sehen waren. Und seinem Meisterwerk „The River“ liegt die frühe Lebensgeschichte seiner Schwester zugrunde: früh schwanger geworden und geheiratet. Bruce Springsteen hat die Untiefen der amerikanischen Gesellschaft ausgeleuchtet wie nur wenige – und dabei einige unvergessliche Zeilen geschaffen: „Is a dream a lie if it don’t come true – or is it something worse?“

 

Fast automatisch sind solche Songs auch politisch, da stellt Springsteen sich ganz bewusst in die Tradition amerikanischer Folksänger wie Pete Seeger und Woody Guthrie („This Land is Your Land“), am deutlichsten natürlich in seinem ersten Cover-Album „We Shall Overcome: The Seeger Sessions“. Dass „Born in the USA“, eine beißende Kritik am Vietnamkrieg und dem Umgang mit den Kriegsveteranen, oft missverstanden wurde – besonders auffällig von Ronald Reagan – kann man als ironische Fußnote abhaken.

 

2002 erschien nach längerer Pause und erstmals seit fast 20 Jahren wieder mit der E Street-Band „The Rising“. Angeblich soll ein Mann kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center Springsteen begegnet sein und ihm zugerufen haben: „Wir brauchen dich!“ Vielleicht ist das eine Legende, aber „The Rising“ ist bis heute das meines Wissens einzige Mainstream-Musikalben, das die Anschläge thematisiert. Interessant ist auch das Album „Wrecking Ball“ von 2012, auf dem er die Wirtschaftskrise in den Blick nimmt und kein gutes Haar an Bankern und Finanzleuten lässt. In „Death to my Hometown“ greift er auf seinen Hit „My Hometown“ (1984) zurück, nur um seine Figur erzählen zu lassen, wie seine Heimatstadt durch Gier und nackten Kapitalismus zerstört wurde. Das geht hin bis zu Rachefantasien, wenn es in „Jack of All Trades“ heißt: „If I had me a gun, I’d find the bastards and shoot ‘em on sight“. Und dann gibt es, wie oft bei Springsteen, einen optimistischeren, hier eher trotzigen Ton in „We Take Care of Our Own“ – dann kümmern wir uns halt selbst drum!

 

Er arbeitet wie ein Schriftsteller


Springsteen arbeitet wie ein Schriftsteller. In seiner Autobiografie „Born to Run“ räumt er ein, dass er schon über Autos schrieb, als er noch keinen Führerschein hatte und über Fabriken, obwohl er nie in einer gearbeitet hat. Aber Stephen King hat, jedenfalls hoffe ich das, auch nie tote Haustiere wieder zum Leben erweckt. Springsteens beste Stücke sind Literatur, die zu großartigen Rocksongs werden.

 

Mit der E Street-Band, die er zwischendurch fast zwei Jahrzehnte aufgelöst hatte, verfügt Bruce Springsteen zudem über eine Weltklasse-Mannschaft im Rücken. Es ist vielleicht die beste Live-Band überhaupt, zumindest spielt sie in einer eigenen Liga. Es gab schmerzliche Verluste, der „Big Man“ Clarence Clemons, dessen Saxophon viele der großen Hits prägte, starb 2011; Danny Federici (Orgel, Akkordeon, Glockenspiel – zum Beispiel auf „Badlands“) bereits 2008. Das Saxophon spielt heute interessanterweise Clarence Clemons Neffe Jake (und wird von Jahr zu Jahr besser), auch sonst hat sich die Zusammensetzung der Band verändert und wurde unter anderem durch eine Bläsersektion erweitert sowie durch Soozie Tyrell (Violine, Gitarre). Alleine über die Band könnte man Bücher schreiben.


Der Ärger um die Ticketpreise


Bruce Springsteen hat in seiner Karriere wenige Fehler gemacht. Einige schwächere Alben (wie jüngst das Coveralbum „Only The Strong  Survive“) sind leicht zu verzeihen, richtig schlechte Musik hat er nie rausgebracht. Authentisch von den Ausgestoßenen zu erzählen, wenn man selbst längst Multimillionär ist, das kann zum Problem werden. Ihm gelang es. Allerdings hat er sich bei der jüngsten Tour erstmals darauf eingelassen, einen Teil der Konzertkarten im so genannten „dynamic pricing“ (auch als „Platinum Tickets“ bezeichnet) verkaufen zu lassen. Das bedeutete, dass der Preis mit der Nachfrage stieg – und die Nachfrage war riesig. So bezahlten einige Fans mehrere tausend Dollar Eintritt, das verträgt sich schlecht mit dem Ruf als Volkssänger. Auch seine Verteidigung in einem Interview mit dem „Rolling Stone“ war nicht überzeugend. Das großartige Fanzine „Backstreets“ (www.backstreets.com) gab daraufhin nach Jahrzehnten enttäuscht auf und schrieb  von einer „Glaubenskrise“. Das ist gut zu verstehen. Wie soll die Truckerfahrerin aus „Springsteen and I“ sich ein Ticket für tausende Dollars leisten können? Es wird spannend, zu beobachten, wie die Preise für die nächste Tour – die es hoffentlich geben wird – gestaltet werden.

 

Noch etwas hat er im Rolling-Stone-Interview über die Ticketpreise gesagt: „But if there’s any complaints on the way out, you can have your money back.“ Das mag eine Spur arrogant klingen, doch dann waren wir im Volksparkstadion in Hamburg. Springsteen fing schon ein paar Minuten vor 19 Uhr an, röhrte „Hello, Hamburg!“ in die Menge und legte los – fast drei Stunden, 25 Songs, keine Pause, kein Verschnaufen – „no retreat, no surrender!“. Der 73-Jährige und seine Mitstreiter von Max Weinberg, über „Little“ Steven van Zandt bis Nils Lofgren rackerten und schufteten, sangen und spielten, alberten und trauerten um verstorbene Bandmitglieder – eine Show wie aus einem Guss. Ein Rockerlebnis der anderen Art – und nebenbei der Beweis, dass Rock’n’Roller doch in Würde altern können. Wahrscheinlich hätte wirklich niemand sein Geld wiederhaben wollen.

 

Sicher war dieses Konzert – oder ein anderes der Mammuttour – für andere so eine Aus-Zeit wie für mich 2016, ein paar Stunden jenseits von Sorgen und Alltag. Damals hatte ich einige Wochen nach dem Tod meiner Frau noch ein besonderes Springsteen-Erlebnis. Er hatte in jenem Jahr seine Autobiografie veröffentlicht und ich hatte es einer Freundin, damals noch in der Kulturredaktion der Hessischen-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA), zur Rezension empfohlen. Auf Anfrage beim Verlag bekam sie die Einladung zu einer geheimen Lesung mit Springsteen am Rande der Frankfurter Buchmesse – und gab sie an mich weiter. Ich durfte darüber berichten. So saß ich im Saal eines Luxushotels und hörte ihn lesen. Später stand er nach der Theke und die Journalisten, nicht wenige auch Fans, drängelten sich um ihn. Man möge doch bitte keine Fotos mit ihm machen und auch nicht nach Autogrammen fragen, mahnten die Verlagsmenschen. Doch das war Springsteen offenbar egal. Er plauderte, ließ sich fotografieren und schüttelte Hände – bis er nach einem Bier verschwand. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die andere Menschen vergöttern. Ich habe mir nach dem Händedruck natürlich ganz normal die Hände wieder gewaschen. Aber das Autogramm habe ich noch – und ganz viel Respekt für einen unserer größten Rockstars.

 

Ich durfte damals neben dem Zeitungsbericht auch für www.backstreets.com einen Artikel schreiben, mein bisher einziger veröffentlichter Text in englischer Sprache. Und es schmerzt mich, dass ich meiner Frau von all dem nie erzählen konnte.

 

Es dürfte Bruce Springsteen schwerfallen, dieser Tage nicht auf einer Bühne zu stehen. Aber es müsste schon mit dem Rock’n’Roll-Teufel zugehen, wenn er nicht bald wieder die Gitarre umschnallen, seine Band zusammentrommeln und das nächste Konzert anzählen würde, und dann das übernächste, das überübernächste und immer so weiter: „one, two, three…“

 




  • Das Interview im "Rolling Stone":

https://www.rollingstone.com/music/music-features/bruce-springsteen-covers-lp-fan-outrage-ticket-prices-1234632658/


  • Mein Text für Backstreets

https://www.backstreets.com/newsarchive85.html

 

  • Die offizielle Homepage