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Trend zur Traurigkeit: So feiern Sad Girls online die Melancholie

Woher kommen die Weltschmerz-Postings?

Sie sind aktiv auf Instagram, Tumblr und Twitter. Sie veröffentlichen Bilder von ihrem Maskara-verschmierten Gesicht, schreiben Texte über Selbstzweifel, Ängste und Einsamkeit und versammeln hinter sich eine Schar von Followern, die sich in den angesprochenen Problemen wiederfinden: Sad Girls.


Das Motiv des melancholischen Mädchens ist alt und wird auf neu poliert: Schon in Romeo und Julia schafft Shakespeare eine morbide Romantik, die auch heute noch fasziniert. Jane Eyre ist die verzweifelte Heldin schlechthin, die kleine Meerjungfrau stirbt an ihrer unglücklichen Liebe. Besonders ist jetzt nur die Unmittelbarkeit der Bilder, Sätze und Videos, die uns im Netz direkt erreichen.


Doch worum geht es der Community wirklich? Handelt es sich wieder nur um einen hippe Form der Selbstdarstellung? Oder steckt doch ein Statement dahinter, das sich mit Geschlechterrollen und psychischen Krankheiten auseinandersetzt?

Warum zeigen die Sad Girls Gefühle?

Im Internet finden Menschen weltweit Gleichgesinnte, die sich für dieselben Filme begeistern, dieselben Verschwörungstheorien herbeischwurbeln oder sich eben mit denselben Problemen herumschlagen. Besonders für Menschen, die sich allein gelassen fühlen, einsam, in die Welt geworfen, kann es hilfreich sein, ihre Emotionen mit Leuten zu teilen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Über Sorgen zu reden und sich auszutauschen fällt manchmal leichter, wenn es auf einer anonymen Plattform geschieht, versteckt hinter einem Profilbild.

Auf dem Tumblr webcam tears veröffentlichen die User Videos von sich – weinend. Geteiltes Leid ist halbes Leid, ob Tränchen kullern oder Bäche fließen.

Steckt nicht mehr hinter den Tränen?

Doch den “Sad Girls” geht es nicht primär darum Trost zu finden, vielmehr wollen sie raus aus einem Alles-Prima-Sonnenschein Stereotyp und rein in einen authentischen Umgang mit dem eigenen Innenleben. 

Audrey Wollen, eine US-amerikanische Bloggerin, beschreibt das Phänomen in ihrer Sad Girls Theory sogar als ein Akt der Rebellion. Rebellion gegen eine Welt, die noch immer die Mehrzahl der Frauen in eine benachteiligte Position zwingt, die noch immer nach den Regeln der Männer spielt und die noch immer das Bild des lieblich lächelnden Mädchens aufrecht erhält.

Verrückterweise spürt Wollen sich auch durch den modernen Feminismus in ein bestimmtes Frauenbild gedrängt: Frau soll stark, empowered und mit sich im Reinen sein und bitte ja nicht verletzlich oder unglücklich wirken.

Dem will sie sich widersetzen, indem sie zeigt, dass jede Emotion ihre Berechtigung hat. Wir sollten nicht von außen zu einem bestimmten Umgang mit ihnen gezwungen werden. Diesen Gedanke der Selbstbestimmung setzt sie in einer Reihe von Selbstportraits um: Sie inszeniert sich im Stil von klassischen Gemälden und nutzt das kunsthistorische Erbe so zu ihrer persönlichen Selbstverwirklichung – als Künstlerin und Model in Einem.

Wird die Depression zum Lifestyle?

Der Anspruch, authentisch Gefühle zu zeigen, lässt sich nur schwer anwenden auf die Fotos, die sich sonst unter dem Hashtag #SadGirls finden. Fotos von Blutergüssen, die sich wie violette Galaxien auf Schenkel oder Arm ausbreiten, Fotos von Mädchen, die verzweifelt und cool zugleich in die Kamera blicken. Fotos, die verstörend schön sind und das Leid dadurch in den Hintergrund rücken.

Dass die hübsch aufgemachte Verletzung, sei sie nun physisch oder psychisch, längst zu einem Lifestyle avanciert ist, zeigt die Seite Sad Girls Guide. Die anonymen BloggerInnen geben dort unter dem großen Label der Sad Girls Style-Tipps, Flirt-Anleitungen und Musik-Empfehlungen, die zum stilbewussten traurigen Mädchen passen. Auf Etsy findet sich dann sogar der passende rosa Pulli oder der süße Anstecker, die auf den neuen Style verweisen. Natürlich, eine Möglichkeit Geld zu machen bleibt selten ungenutzt.

Doch nicht das Mainstreaming von Nischentrends ist das Problem, sondern dass es hier tatsächlich anfangs um psychische Probleme ging. Klar, hauptsächlich um gelegentliche Weltschmerz-Anfälle, aber eben auch um Depression.

Und nun wird ein beschöntes Bild kreiert von depressiven Mädchen, die sich alle kleiden und aussehen wie Lana del Ray. Dabei sind Depressionen eine Krankheit, die nichts mit Modebewusstsein oder Sefies zu tun hat. Schön sieht es ganz sicher nicht aus, wenn man sich tagelang im Schlafanzug unter der Bettdecke vor der Welt versteckt.

Trotzdem kann ein entspannter Umgang mit dem Thema Depressionennicht schaden, solange es ein realistischer bleibt. Auf Twitter schreibt @SoSadToday über ihre Sozialphobien und Ängste, immer mit einem zynischen Unterton. Damit erreicht sie eine riesige Gruppe von Followern und arbeitet gleichzeitig gegen das Tabu, das psychischen Krankheiten leider noch anhaftet.


Sollten wir in die Webcam weinen?

Ob sich nun Sad Girls nach Verständnis im Internet sehnen, sich als feministische Vorreiterinnen verstehen oder sie nur an der Beliebtheit ihres Instagram-Accounts interessiert sind, die Selbstdarstellung von Frauen im Internet beeinflussen sie alle.

Sollten wir jetzt auch unsere kleinen und großen Zusammenbrüche online dokumentieren, um so gegen das Bild des Sommerkleid-Mädchens und für eine Anerkennung aller Gefühle zu kämpfen?

Vielleicht wären wir erstaunt über den Rückhalt und Zusprüche, die wir von anderen Sad Girls erhalten würden. Vielleicht reicht es aber auch, einfach gegenüber seinen Freunden und IRL ein Klima zu schaffen, wo Emotionen nicht verpönt sind, sondern zugelassen werden, egal wie himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt wir sind.