Wir wissen also, warum Arnold Littmann den Widerstandskreis um meinen Großvater und Plato verraten hat. Aber es ist auch nicht ganz uninteressant, WIE er das gemacht hat - und vor allem WO. Denn nach dem Gründungstreffen in Brüssel, kehrt Arnold Littmann zunächst nach Berlin zurück. Dort nimmt er Kontakt zu Dr. Eberhard Plewe auf, damals Amtsgerichtsrat, NSDAP-Mitglied und ehemaliger Leiter des "Deutschen Pfadfinderverbandes", schreibt Kulturhistoriker Andreas Pretzel.
Littmann sucht sich also einen sehr einflussreichen Unterstützer innerhalb der eigenen Reihen. Es gilt schnell zu handeln, denn die nächste Gelegenheit, sich als offizielle Vertreter der deutschen Jugend zu präsentieren ist bereits Ende Juli im niederländischen Vogelzang. Denn dort findet das 5. World Scout Jamboree statt - ein Pfadfindergroßlager, sozusagen das Welttreffen der Jugendverbände. Laut Wikipedia kamen in diesem letzten Juliwochenende des Jahres 1937 insgesamt 28.750 Teilnehmer aus 54 Ländern in Vogelzang zusammen. Das sind ungefähr so viele Teilnehmer wie beim Summerjam am Fühlinger See in Köln. Nur, um da mal eine aktuelle Vergleichsgröße zu haben. Diese Veranstaltung war also durchaus wichtig, wenn es darum ging zu zeigen, wer jetzt offiziell die deutsche Jugend nach außen vertritt. Aber es ging um viel mehr, schreibt Andreas Pretzel in seinem Essay:
"Aus der Perspektive der bündischen Jugendführer, die sich in Deutschland zu behaupten suchten, stellte sich der Alleinvertretungsanspruch der Exilanten als Affront dar, der sie nicht nur in ihrem Selbstverständnis als ebenso legitime Vertreter der deutschen Jugendbewegung herabsetzte, sondern auch ihre bündische Weiterarbeit in Deutschland gefährden konnte. [...] Außerdem standen die internationalen Aktivitäten der Jugendbewegung unter besonderer Beobachtung der Gestapo: 1936 war Georg von Schweinitz (1912-1940), dem es gelungen war, als Mitglied der NSDAP und SS in der Auslandsabteilung der Reichsjugendführung tätig zu werden, wegen seiner internationalen Kontakte und bündischen Beziehungen verdächtigt und schließlich wegen homosexueller Freundschaften mehrfach verhaftet und ins Konzentrationslager gesperrt worden. Um die Absichten Ebelings und Hespers' zu durchkreuzen und in Deutschland kein weiteres Misstrauen zu erregen, wandte sich Littman als Informant an die Gestapo und Plewe an den Diplomaten Otto von Hentig, der gleichfalls aus der bündischen Jugendbewegung kam. Ihre Reise zum internationalen Pfadfindertreffen in Vogelzang 1937 erfolgte quasi in staatlicher Mission."
invertito - Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten | 8/2016, S. 129
Für alle, die von den vielen Namen ebenso verwirrt sind wie ich: Ihr müsst sie euch nicht merken für den Fortgang der Geschichte. Wichtig ist nur: Es handelt sich hierbei nicht um irgendwelche Parteimitglieder. Nein, Plato und mein Großvater haben sich gleich mit namhaften und einflussreichen Vertretern des NS-Regimes angelegt - und diese durch ihr Vorhaben in Lebensgefahr gebracht. Denn nach den Recherchen von Andreas Pretzel gerät später nicht nur Arnold Littmann erneut in die Finger der Gestapo:
"Im Juni 1944 wurde Littmanns Doppelleben - zwischen politischer Zuverlässigkeit und bündischer homosexueller Betätigung - aufgedeckt und ein Strafverfahren wegen einer intimen Beziehung zu einem 19-Jährigen eingeleitet. Einen Monat später gerieten auch Plewe und von Henting wegen ihres Doppellebens in Haft. Ihnen wurde vorgeworfen, Kontakte zu Vertretern des konservativen Widerstandes und insbesondere zum Kreis der Hitler-Attentäter unterhalten zu haben. Das traf offenbar auch auf Littmann zu, doch ihm war es derweil gelungen zu flüchten."
invertito - Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten | 8/2016, S. 129-130
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