Während keine 100 Meter entfernt Hollywood-Stars und Lokalprominenz über den grünen Teppich des ZFF stolperten, besuchte Jirí Kylián, der berühmteste Choreograf der Gegenwart, fast unbemerkt die Proben zu seinem Stück "Gods and Dogs", das am letzten Mittwoch im Opernhaus Premiere feierte. Ein exklusives Gespräch über den Wahnsinn, die Kunst und den Tod.
Ihre Werke werden an jedem Tag vielerorts auf der Welt aufgeführt. Warum kommen Sie ausgerechnet zur Zürcher Premiere von "Gods and Dogs"? Ich war schon mehrmals in Zürich, wenn Heinz Spoerli Ballette von mir zur Aufführung brachte. Christian Spuck habe ich aber erst jetzt kennen gelernt, obwohl uns zumindest die Erfahrung, in Stuttgart getanzt zu haben, verbindet. Auch wenn das bei mir schon gefühlte 100 Jahre her ist. Aber es freut mich ausserordentlich, dass Christian Spuck meine Arbeit schätzt und hier in Zürich aufführt.
Trotzdem: Sie reisen nicht mehr viel, und die Mehrzahl Ihrer Stücke wird von Ihren Assistenten weitergegeben. Das ist auch in Zürich so, wo Urtzi Aranburu das Stück mit dem Ensemble einstudiert hat. Ich reise nur noch an Orte, die ich mit dem Zug erreichen kann, denn ich bin mit dem Alter klaustrophobisch geworden und kann nicht mehr fliegen. Ich habe eine fabelhafte Truppe von Leuten, die meine Werke auf der ganzen Welt einstudiert. Meine Assistenten kennen jedes Detail der Choreografie und halten sich daran, als wäre es die Bibel. Ich hätte nicht nur Probleme, mich genau zu erinnern, sondern würde auch sofort damit beginnen, alles zu hinterfragen und zu verändern.
Die Zeit hat sich seit der Uraufführung 2008 ja auch verändert - warum sollte nicht auch eine Choreografie mit der Zeit gehen? Die Zeit hat sich verändert, die Wirkung des Stückes hat sich verändert, und auch ich bin nicht mehr derselbe, der ich damals war. Darum mache ich heute andere Sachen als damals, und darum wirken meine Stücke von damals heute anders als zu ihrer Entstehungszeit. Es wäre schrecklich, wenn ich nur eine Kopie des Originals sähe an der Premiere! Aber weil es die Tänzerinnen und Tänzer mit ihrer Persönlichkeit und ihren gegenwärtigen Empfindungen umsetzen, wird das Stück jedes Mal wieder neu, obwohl die Bewegungen dieselben sind.
In "Gods and Dogs" geht es um die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn. Haben Sie das Stück wegen seiner exzessiven Thematik zuerst für das NDT II konzipiert, die Nachwuchscompagnie des Nederlands Dans Theater? Schauen Sie: Der Wahnsinn ist überall. Ich habe mich damals intensiv mit dem Thema beschäftigt, auch wenn im Stück am Ende gar nicht so viel davon übrig bleibt. Ausgelöst wurde das durch eine alte Freundin, die ich nach langer Zeit wieder getroffen hatte und die mich als Erstes fragte: "Bist du denn gesund?"
Was antworteten Sie? Wahrscheinlich war ich schon krank, als ich noch kein Jahr alt war. Oder bin ich erst krank, wenn ich im Spital liege, mit einem Schlauch im Mund? Weiss ich, was in mir steckt? Und wer bestimmt, ob einer noch gesund tickt und wann er beginnt, abwegig zu sein? Ich bitte die Tänzer, verrücktes Zeug zu machen: Wenn ein Arbeiter von der Strasse in den Ballettsaal käme, würde er sich sicher fragen, ob das denn normal sei, was wir machen.
Man hat Sie aber nie für verrückt erklärt, für das, was Sie mit dem angestellt haben. Verrückt noch nicht, aber in der Kritik für mein erstes Stück schrieb ein Kritiker 1970, dass man mich ins Gefängnis sperren sollte, damit ich nie, nie wieder etwas choreografiere. Meine Mutter war entsetzt, sie sah meine Karriere noch vor ihrem Beginn zerstört. Jahre später, ich war schon künstlerischer Direktor des Nederlands Dans Theater, kamen wir als Gäste mit einem abendfüllenden Programm nach Stuttgart zurück, und ebenjener Kritiker fiel mir nach der Vorstellung ganz entzückt um den Hals. Neben mir stand meine Mutter, und als sie begriff, wer das war, ging sie ihm an den Kragen - sie hätte ihn fast erwürgt.
Sie wollen aber nicht behaupten, das sei Ihre einzige schlechte Kritik gewesen? Man hat mich gut behandelt, mit wenigen Ausnahmen. Ich habe aber auch immer versucht, meine Stücke nicht für eine Elite zu machen, sondern so, dass sie jeden berühren können. Tanz ist ein allgemeines Gut, und man sollte es den Menschen nicht zu schwer machen. Das bedeutet nicht, dass ich Kompromisse eingegangen wäre oder gefällig sein wollte, ganz und gar nicht.
Wissen Sie, weshalb Ihre Stücke die Menschen berühren? Es geht nicht um etwas Abstraktes, auch wenn es am Schluss manchmal abstrakt aussieht. Die Wurzeln meiner Arbeit kommen immer aus der Menschlichkeit. Hinter den abstrakten Bewegungen sind sehr oft realistische Bilder, die ich den Tänzern mit auf den Weg gebe. Das sind manchmal ganz banale Dinge, aber sie geben der Produktion eine Glaubwürdigkeit, die man spürt.
In der Musikwahl arbeiten Sie stärker mit Konfrontationen. Wissen Sie, manchmal zerschlage ich die Musik auch aus Respekt. Ich kann doch nicht so tun, als ob ich mit der Bewegung all das erzählen könnte, was in der Musik steckt! Dieses Zerschlagen, Hinterfragen ist auch eine Tür, durch die man einen anderen Zugang findet.
Ihr Stück wird zusammen mit Werken von William Forsythe und Ohad Naharin gezeigt, die beide unter Ihrer Direktion am Nederlands Dans Theater ihre ersten Choreografien zeigten. Könnte man behaupten, sie seien Ihre Schüler gewesen? Oh nein, das kann man nicht! Aber ganz früh, als ich noch in Stuttgart choreografierte, war Billy dort als Tänzer in der Erstbesetzung von "Blaue Haut". Es war superfantastisch: Wir haben zusammen Material entwickelt, das einen ganzen Abend hätte füllen können. Aber ich würde ihn nie, nie als meinen Schüler bezeichnen, um Gottes willen! Ich habe ihn wiederholt nach Holland eingeladen, wo er viele Stücke für uns choreografiert hat, lange bevor er in Frankfurt war. Ohad Naharin hatte ich in New York gesehen - und war der Erste, der ihn nach Europa holte. Ein Auge für diese herausragenden Talente hatte ich schon, dazu bekenne ich mich mit Freude.
In den zwanzig Jahren Ihrer künstlerischen Direktion am NDT haben Sie neben Forsythe und Naharin über 70 weitere Choreografen eingeladen, zwei zusätzliche Compagnien gegründet und ein Theater gebaut - das klingt nach künstlerischem Überfluss? Es ist schon einmalig, welchen Reichtum an Choreografen diese Zeit hervorgebracht hat. Da waren ja auch Maurice Béjart, Pina Bausch, Mats Ek, Hans van Manen... Lauter unabhängige Individualisten, die kaum etwas miteinander zu tun hatten, ausser dass sie völlig überzeugend ihr Ding durchgezogen haben. Es war ihnen schnuppe, was andere von ihnen denken. Diese grosse Diversität hat das NDT aber auch zu einer "Wegwerf-Compagnie" gemacht, weil dieses gigantische Repertoire nie ganz ausgeschöpft werden konnte.
Doch jetzt wird gespart: Die Seniorencompagnie NDT III für Tänzerinnen und Tänzer über 40 wurde 2006 aus Kostengründen eingestellt, und der Theaterbau von Rem Koolhaas soll demnächst einem Mehrzweckgebäude weichen. Schmerzt das? Ich mag es nicht, wenn man immer klagt, dass zu wenig Geld da sei. Schlimm ist jedoch, wenn die Gesellschaft den Wert der Kultur nicht mehr erkennt. Denn richtig ist: Geld ist eigentlich immer da, aber man muss entscheiden, wofür man es ausgibt. Und heute beschliesst man, es anderswo auszugeben als in der Kultur. Das ist eine Tragödie. Eines der rettenden Elemente der Menschheit ist immer die Kultur gewesen.
In Zürich stellen sich jetzt Kulturschaffende zur Wahl ins Parlament. Finden Sie das sinnvoll? Kunst und Politik vertragen sich schlecht. Die Politiker sind nur an Kunst interessiert, wenn sie etwas für sich herausschlagen können. Dabei ist es die Kunst, die uns von den Tieren unterscheidet. Fressen können die ja auch - oder schlafen und bumsen. Aber die Malerei, die Dichtung, die Musik und den Tanz, das kennt nur der Mensch in dieser Form. Die Kultur ist das, was uns zum Menschen macht! - Wäre ich nicht ein guter Kulturminister?
Bestimmt! Aber auch Sie werden älter - fürchten Sie den Tod? Ich werde arbeiten, bis ich sterbe, auch wenn ich jetzt schon versuche kürzerzutreten. Nichts zu tun, ist schwieriger, als man denkt. Jetzt habe ich mehr Zeit und sehe gleichzeitig schon die Schlusslichter. Wobei der Tod mich immer begleitet hat, er ist immer da. In der Kunst geht es immer nur um Liebe und Tod. Man erfährt viele Dinge im Leben, wenn man noch viel zu jung dafür ist. Und am Schluss fehlt dennoch die Zeit, all das weiterzugeben, was man erfahren hat. (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)
(Erstellt: 06.10.2015, 17:58 Uhr)