Herr Glowacz, wie fühlen sich Frostbeulen an?
Stefan Glowacz: Man spürt sie überhaupt nicht. Das ist das Tückische daran, denn solche Durchblutungsstörungen können sich von der Oberfläche in tiefere Hautschichten ausbreiten und die Nerven schädigen. Das ist mir zum Glück erspart geblieben, obwohl ich zeitweise aussah wie ein Blumenkohl.
Was treibt einen Kletterer dazu, bei minus 40 Grad durchs Eis zu stapfen?
Ich habe die riesigen Eismassen Grönlands vor drei Jahren von einem Flugzeug aus gesehen. Seitdem hat mich der Gedanke nicht mehr losgelassen. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, dort zu stehen.
Und?
Brutal. Die Zeit auf dem Eis war eine wahnsinnige Schinderei. Diese Umgebung ist körperlich und emotional eine absolute Grenzerfahrung. Nicht nur wegen der extremen Kälte. Auch wegen der Gleichförmigkeit, der Weite und des Fehlens eines sichtbaren Ziels vor Augen. Wir hatten oft Whiteouts, also eine Wetterlage, bei der Schnee und Himmel eins werden. Da läuft man durch ein großes, weißes Nichts. Aber das hat keinerlei spirituelle Komponente, es ist einfach nur zermürbend. Dazu kommt der Druck, keine Fehler machen zu dürfen.
Weil die Umgebung sie nicht verzeiht?
Genau. Schon die kleinste Unachtsamkeit kann fatale Folgen haben: ein verlorener Handschuh, ein Loch im Zelt, ein verstauchter Knöchel, zu wenig geschmolzenes Wasser. Jeder Handgriff muss sitzen, Disziplin ist überlebenswichtig. Das habe ich von Thomas Ulrich gelernt, der schon Erfahrung mit Arktis-Expeditionen hatte. Anfangs hielt ich seine akribische Vorbereitung für kleinlich, aber ich musste schnell einsehen: Ohne Sorgfalt bis ins letzte Detail ist man geliefert.
Eigentlich wolltet ihr weite Teile kiten.
Das war der Plan. Aber zunächst ging es nur zäh voran. Entweder war es windstill, oder die Böen kamen aus der falschen Richtung, also sind wir anfangs auf Steigeisen gelaufen und dann auf Skier umgestiegen. Da ackerst du den ganzen Tag, machst aber kaum Strecke. Wenn du noch 1000 Kilometer vor dir hast, die Nahrung auf 40 Tage rationiert ist und dir 130 Kilo Gepäck im Kreuz hängen, kann das schon auf die Laune schlagen.
Wie habt ihr es geschafft, rechtzeitig an der Ostküste anzukommen?
Wir haben nur einen Tag pausiert. Irgendwann kam der Wind. Auf einmal sind wir in der Sonne auf dem Pulverschnee dahin gerast, inmitten dieser abstrakten Kulisse. Ein irres Glücksgefühl. So haben wir bis zu 120 Kilometer am Tag gemacht.
Kälte, Wind, Wellen: Die Expedition war ein Spiel mit den Naturgewalten.
Ein einseitiges Spiel, bei dem immer die Natur die Oberhand hatte. Sie diktiert den Weg, die Stimmung und das Tempo. Wir mussten Zwangspausen einlegen wegen Eisschollen, Sturm oder Wellen, dann wieder war der Wind zu stark oder zu schwach. Am meisten hat mir zugesetzt, dass ich viele Situationen nicht einschätzen konnte. Auf dem Meer oder auf dem Eis kannst du als Kletterer nicht auf deine Erfahrungen und Instinkte vertrauen. Du musst dich auf andere verlassen. Wie gefährlich ein Sturm ist, verrät dir im Zweifel nur das Gesicht des Skippers.
Es heißt, Sie waren seekrank.
Wir waren kaum ausgelaufen, da ging es los – ein furchtbares Gefühl. Man ist immer müde. Nichts in Kopf und Körper ist mehr, wo es sein soll, und ständig hängt man kotzend über der Reling. Seefahrer werde ich in diesem Leben nicht mehr.
Es ging um die emissionsfreie Fortbewegung. Wie kam es dazu?
Ich handle schon lange nach dem Credo „by fair means“. Das bedeutet, sich vom letztmöglichen Zivilisationspunkt aus nur mit eigener Kraft zu seinem Ziel zu bewegen. Diesen Gedanken haben wir bei dieser Expedition auf die Spitze getrieben, indem wir sie klimaneutral durchgeführt haben. Gestartet sind wir vor meiner Haustür in Bayern mit BMW i3 E-Autos, danach ging es mit Segelyacht, Skiern und Kites voran. Ich finde den Ansatz zeitgeistig. Und außerdem maximiert es die Herausforderung, die Anreise in das Abenteuer zu integrieren.
Mit welchem Gefühl kommt man nach dreieinhalb Monaten wieder heim?
Schwer zu sagen. Erschöpfung, Dankbarkeit, Glück? Die Strapazen verblassen schnell. Was dir bleibt, sind intensive Erinnerungen, darunter viele kleine Glücksmomente: das Stück Schokolade abends im Zelt, das Auftauchen von Felsformationen am Horizont, nachdem man wochenlang nur Eis gesehen hat, das Segeln unter Nordlichtern oder das Gefühl, zum ersten Mal nach langer Zeit wieder zu klettern.
Die geplante Erstbegehung mussten Sie auslassen. Wie tief sitzt das?
Wir waren zu spät dran, die Wände an der Ostküste waren bei unserer Ankunft bereits komplett vereist. Das war zuerst einmal eine große Enttäuschung. Aber man muss auch ehrlich zugeben: Wir wären nach der Zeit auf dem Eis körperlich nicht mehr in der Lage gewesen, vom Boden abzuheben. Wir saßen vor dem Berg und waren platt. Aber die Lust war da. Für mich ein untrügliches Zeichen, dass ich mein Leben genau richtig lebe.