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(S+) "Finnegans Wake"-Übersetzung: Pförtner zur Weltliteratur

Im Arbeitszimmer des Übersetzers Ulrich Blumenbach steht neben der schwarzen vollgestellten Bücherwand ein frisch bezogenes Bett. Ein Bett, das er für seine aktuelle Übersetzungsarbeit mehr denn je braucht. Denn in seine Baseler Wohnung ist vor einigen Monaten der irische Jahrhundertdichter James Joyce mit seinem letzten Werk, »Finnegans Wake«, eingezogen.

James Joyce (1882 bis 1941) gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Moderne. Sein Werk gibt Geisteswissenschaftlern immer noch Rätsel auf und beeinflusste Autoren, Musiker und Filmemacher weltweit. Was allerdings fehlt, ist eine vollständige Übersetzung des Buches auf Blumenbachs Schreibtisch. Und der will das ändern. Wenn man ihn danach fragt, wie es denn darum stehe, deutet er auf das Bett in der Ecke und sagt: »Bei ›Finnegans Wake‹ ist die Suche nach einem roten Faden und einem Kernsatz manchmal so anstrengend, dass ich mich oft nach ein paar Stunden Arbeit eine halbe Stunde hinlegen muss.«


Blumenbach ist ein gertenschlanker, gedankenschneller Mann, der im besten Sinne etwas fahrig wirkt. Nicht weil er unorganisiert ist, sondern weil die Gedanken aus ihm herauszuquellen scheinen und selbst ein versehentlich umgeworfener Stapel Bücher ihn nicht einmal kurz davon abhalten kann, über James Joyce, »Finnegans Wake« oder die Kunst des Übersetzens zu sprechen.


Außergewöhnliches Sprachkunstwerk

Blumenbach hat in den vergangenen Jahren vor allem zwei Werke übersetzt, die in ihrer Komplexität James Joyce zumindest nahekommen. »Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace und »Witz« von Joshua Cohen. Für die Übersetzung von »Witz« bekam Blumenbach im letzten Jahr den Paul-Celan-Übersetzer-Preis des Deutschen Literaturfonds verliehen. In der Begründung der Jury heißt es: »Mit ›Witz‹ legt er ein außergewöhnliches Sprachkunstwerk vor, dass in seinem Assoziationsreichtum und seiner Vielstimmigkeit dem Original um nichts nachsteht.«

Er und seine Kollegen sind so etwas wie Pförtner zur Weltliteratur: Zuerst das Original. Dann der Übersetzer. Dann die Leserinnen und Leser. Seine Faszination für Joyce hat Blumenbach im Studium entwickelt, damals schloss er sich einer Arbeitsgruppe an, die sich daran versuchte, »Finnegans Wake« zu übersetzen, und immerhin neun Seiten in einem Sammelband veröffentlichte.

Jetzt also das Gesamtwerk. Eine fast unlösbare Aufgabe, wenn man sich die Entstehungsgeschichte des Romans anschaut. James Joyce begann seine Arbeit an »Finnegans Wake« im Jahr 1922. Nach vier Jahren war das Buch zum größten Teil geschrieben. Dann habe er den Text allerdings »zehn bis zwölf Jahre lang angereichert«, sagt Blumenbach, in jedem Satz mit Anspielungen gearbeitet, die Sätze so überfrachtet und immer länger gemacht. Zwar gehen diese nicht über einzelne Seiten, sind aber so mit Sinn aufgebläht, das einem beim Blick ins Originalmanuskript schwindelig wird.


In seiner Arbeit versucht Blumenbach zunächst, das »später dazugetane Fleisch wieder zu entfernen« und den Text auf seinen Ursprung zu vereinfachen. »Ich muss das Skelett wiederfinden.«

Das Wesentliche an »Finnegans Wake« ist die Sprache. Es gibt keinen Plot, keine Geschichte. Entscheidend ist die Methodik, mit der James Joyce Sätze kreiert. Blumenbach steht auf, eilt hinüber zum angrenzenden Zimmer und kommt mit mehreren ausgedruckten Seiten zurück. Er tippt auf das oberste Blatt und sagt: »Schauen Sie, auf Seite 113, in Zeile 16. Da verwendet Joyce das Wort ›Apple harlottes‹. Eine Wortneuschöpfung. Statt ›Apple Charlotte‹ was sich mit ›Apfel Charlotte‹ oder ›Fruchtpudding‹ übersetzen lässt, streicht Joyce das ›C‹ und lässt ›Harlot‹ stehen, was wörtlich übersetzt, ›Hure‹ bedeutete. Ich muss eine Übersetzung finden, die diese Wortneuschöpfung in einem Wort erklärt und auch phonetisch nach Joyce klingt.« Blumenbach muss den Klang von Joyce imitieren und gleichzeitig ein Wort finden, was eine ähnliche Assoziation beim Leser hervorruft. »Dirnenkompott.« Blumenbach lässt das Wort stehen und wiederholt es, zieht es wie eine Ziehharmonika lang, damit sich die gesamte Mehrdeutigkeit im zweiten Stock ausbreitet. »Dirnenkompott«. Blumenbach schüttelt den Kopf, als könnte er die Genialität seiner eigenen Übersetzung kaum glauben.

In den Sechzigerjahren hat Roland Mchugh die Lektürenhilfe zu dem Werk geschrieben, »Annotations of Finnegans Wake«. Alle fünf bis zehn Jahre wird es aktualisiert. Die aktuelle Ausgabe ist von 2016. Auf dem Cover sind 16 metallene Schlüssellöcher abgebildet. Zwar bietet das Buch keine Entschlüsselung zu Joyces letztem Rätsel, hilft aber seit Jahrzehnten Joyce-Enthusiasten dabei, »Finnegans Wake« zu dechiffrieren. Ein Lektüreschlüssel, in dem beispielsweise angemerkt ist, auf welches irische Volkslied sich ein von Joyce verwendetes Wort bezieht. »Man darf dieses Buch als kollektiven Wissensstand der Joyce-Forschung verstehen«, sagt Blumenbach. Für ihn eine dankbare Vorarbeit. Er lehnt sich zurück und legt die Hände hinter den Kopf und sagt: »Joyce will, dass ich ihn verstehe.«

»Ich möchte ›Finnegans Wake‹ lesbar machen, ohne gegen die Unverständlichkeit des Originals zu verstoßen.«

Übersetzer Blumenbach

Eine Erkenntnis, die ihn zu beruhigen scheint. In seinem Arbeitszimmer sucht Blumenbach nach einem Sinn im Text. Oft stundenlang. Viele Wörter weichen vom Standardenglisch ab. Manchmal findet er kein Verb, sondern nur Nebensätze. Dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als Unstimmigkeiten oder eine fehlerhafte Syntax zu rekonstruieren. Er stelle dann eine grammatikalische Grauzone her, sagt er. Keine wörtliche Übersetzung, sondern eine, die dem Original so nah wie möglich kommt. Blumenbach beschreibt diese Arbeit mit einem Satz, der so wunderbar ist, dass man ihn sich ausdrucken und einrahmen will: »Ich möchte ›Finnegans Wake‹ lesbar machen, ohne gegen die Unverständlichkeit des Originals zu verstoßen.«

Als Suhrkamp ihm 2018 das Angebot einer vollständigen Übersetzung von »Finnegans Wake« unterbreitete, überlegte Blumenbach kurz. Es ist ein Projekt, das ihn mehrere Jahre lang einnehmen wird, und eine Arbeit, bei der das Scheitern auf eine gewisse Weise vorprogrammiert ist: »Wenn ich mir auf analytischer Ebene alle Dimensionen von ›Finnegans Wake‹ vor Augen halte, dann weiß ich, dass ich nicht alle übersetzen kann.« Er sagte zu.

Er kümmert sich selbst um Geldgeber

Spricht man Blumenbach auf die Finanzierung dieses Großprojekts an, seufzt er. Während seiner Arbeit an »Unendlicher Spaß« arbeitete er für eine Schweizer Großbank und übersetzte Anlegerinformationen für Kunden. »Einfache Textbausteinprosa«. Aufstehen um vier Uhr in der Früh, weil die ersten Texte um fünf Uhr bei der Bank sein mussten. Dann weckte er seine beiden Kinder, frühstückte mit ihnen und konnte erst dann mit der eigentlichen Arbeit anfangen. »Das war eine schlimme Zeit. Ich habe meinen Biorhythmus komplett ruiniert. Aber die Arbeit dieser Banktexte ist eben besser bezahlt als die Literatur.« Die Übersetzung von »Witz« wurde hauptsächlich durch ein Stipendium aus der Schweiz finanziert. Vom Verlag kam ein Grundhonorar. Auch bei der Finanzierung von »Finnegans Wake« kümmerte Blumenbach sich selbst Monate vor der eigentlichen Arbeit um Geldgeber, schrieb Stiftungen an und verfasste Förderanträge. Zwar sei Suhrkamp auch sehr hilfreich gewesen, betont Blumenbach, aber ohne sein Engagement und ohne seinen Namen wäre das Projekt bis heute nicht umsetzbar gewesen.

Für die Übersetzung des Buches hat er einen Vertrag bis 2026. Bis dahin muss er die vollständige Übersetzung liefern. 2027 soll das Werk erscheinen. Ein realistisches Ziel? Blumenbach nickt. »Vor ein paar Monaten hatte ich einen kleinen Durchhänger, aber jetzt bin ich optimistisch, dass das Projekt in dieser Zeit fertig sein wird.« Und danach? Blumenbach schweigt kurz, dreht sich zum Bücherregal und sagt dann ziemlich pragmatisch: »Wenn ›Finnegans Wake‹ von mir übersetzt wurde, kommt es in dieses Regal. Und dann«, er zuckt mit den Schultern, »werde ich wohl ein neues Buch übersetzen.«

 


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