Seit ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest wird die Rockband Måneskin vor allem von der jungen Generation gefeiert. Beleben die Italiener ein eingestaubtes Genre neu - oder geht es um etwas ganz anderes?
An einem Dienstagabend in Berlin spielt die Rockband Måneskin gerade ihren Hit »Kool Kids«, als die Bühne gestürmt wird. Aber der Bühnensturm ist abgesprochen. Die Security zählt die Fans einzeln ab, die die Bühne nach ungefähr drei Minuten gesittet wieder verlassen. Ein kontrollierter Moment der Ausgelassenheit mit angezogener Handbremse, in dem sich der Innenraum der riesigen Mercedes-Benz-Arena weniger in einen Hexenkessel als in ein ruhiges Meer von Handykameras verwandelt. Es ist ein Moment, der stellvertretend für den Abend und für diese sehr erfolgreiche junge Rockband steht.
Auch zwei Stunden vor dem Auftritt, in einem kleinen, schmucklosen Backstagebereich der Mehrzweckhalle, geht es für die Band aus Italien um Kontrolle. Måneskin sitzen zusammen auf zwei beigen Couchreihen, als Sänger Damiano David erklärt, man versuche, nicht in einen verhängnisvollen Strudel aus Drogen und langen Nächten zu fallen. Neben ihm stehen, wie zum Beweis, fein säuberlich aufgestellte, bisher unangetastete 0,33-Literflaschen Coke Zero und ein Teller Pizzateile, ebenfalls unberührt. Von Alkohol keine Spur. Man könne sich den Exzess nicht leisten, sagt der 23-Jährige. Zustimmendes Kopfnicken vom Rest der Band.
Måneskin bestehen aus Sänger David, Gitarrist Thomas Raggi, 21, Bassistin Victoria De Angelis, 22, und Schlagzeuger Ethan Torchio, 22. Sie gewannen vor zwei Jahren den Eurovision Song Contest in Rotterdam und haben kürzlich ihr drittes Album »Rush!« veröffentlicht, auf dem sie erstmalig überwiegend auf Englisch singen. Derzeit ist die Band auf Europatour, spielt vor ausverkauften Hallen. Die Rockband, die sich ihren energischen Sound aus allen möglichen Rockstilen von Glamrock bis Hardrock zusammengebaut hat, ist vom klanglich eher ungewöhnlichen ESC-Act zum internationalen Pop-Phänomen geworden. Vor allem von Jugendlichen und Angehörigen der sogenannten Generation Z werden Måneskin als unverhoffte Wiederbelebung des in letzter Zeit eher siechen Rockgenres betrachtet. Aber für welche Idee von Rock’n’Roll stehen sie eigentlich?
Zeppelin, Stones... und?
Damiano David zündet sich – so viel Exzess ist drin – eine Zigarette an, lehnt sich zurück und pustet lasziv den Rauch aus, bevor er spricht. Sie alle hätten unterschiedliche musikalische Einflüsse, sagt er, hätten aber schon seit Beginn ihrer Karriere zu den früheren Generationen großer Rockmusiker aufgeblickt. Er zählt auf: »Led Zeppelin, Rolling Stones…«, dann stockt er. Ihm fällt keine dritte Band ein. Schon ungewöhnlich für eine Band, die sich der Rockmusik verschrieben hat. »Kiss«, ergänzt schließlich der Schlagzeuger von der Seite. Eine dritte Rock-Referenz ist ihnen dann doch noch eingefallen. Aber beliebiger geht es kaum.
Es gibt eine Szene aus der ESC-Siegesnacht in Rotterdam, die den Rockbegriff, den Måneskin verkörpert, perfekt illustriert. In der Livesendung saß die Band, die Männer größtenteils oberkörperfrei, auf einer weißen Couch und jubelte in die Fernsehkamera. Sänger David schaute in diesem Moment herunter und machte eine rasche Bewegung mit dem Kopf. Im Fernsehen sah es so aus, als würde er sich eine Line Kokain vom Tisch in die Nase ziehen. Der Clip landete auf Twitter, ging viral. Eine Diskussion über den Drogenkonsum der Band entbrannte.
Auf einer anschließenden Pressekonferenz wurde David auf den Vorfall angesprochen. Der Sänger beugte sich ans Mikrofon und sagte. »I don’t use drugs. Please don’t say that.« Drogen? Ich!? Wie kommt ihr denn auf die Idee? Dann stand er auf, schlug die Hände auf die Oberschenkel und rief unter aufkommendem Applaus: »So, that’s Rock!« Anschließend unterzog sich David noch einem Drogentest, den er bestand.
Zertifiziert drogenfrei
Der Rock’n’Roll von Måneskin ist also zertifiziert drogenfrei. Das ist deshalb ungewöhnlich, weil Rockmusik im Kern immer unangepasst war, sich gegen gesellschaftliche Konventionen und gegen eine Elterngeneration richtete, die Regeln und Werte verkörperte, denen Rockmusiker sich nicht unterordnen wollten.
Drogenkonsum und lange, exzessive Nächte, Partys mit Groupies und Saufgelage gehörten in früheren Jahrzehnten dazu. Einige der von Måneskin verehrten Rock-Heroen gerieten wegen Drogen in Konflikt mit der Justiz, manche wurden sogar medienwirksam verhaftet. Måneskin münzen diesen in die Jahre gekommenen Rockbegriff um und deuten ihn dem Zeitgeist des beginnenden 21. Jahrhunderts gehorchend neu: achtsam, gesundheitsbewusst, sensibel im Umgang mit möglichen Transgressionen und Übergriffigkeiten.
Das kann man blöd und langweilig finden. Vielleicht sogar unauthentisch: Es wirkt wie die perfekte Simulation von Rock’n’Roll, die sich der visuellen und musikalischen Zeichen bedient, aber letztlich ein Möchtegern-Rockstarimage erzeugt, das darauf abzielt, möglichst schnell maximal erfolgreich zu werden.
Gleichzeitig sind Måneskin eine Band, bei deren Konzerten sich die Besucherinnen und Besucher sichtlich sicher und wohlfühlen. Junge Eltern tragen ihre kleinen Kinder mit Gehörschutz auf den Schultern, nur wenige Besucher trinken Bier. Niemand pöbelt, es gibt keine Aggressionen, es wird nicht geschubst oder gedrängelt, selbst ganz vorne vor der Bühne nicht – obwohl die Musik immer wieder wild genug wirkt.
Es ist aber nicht nur der Gitarrensound, der bei den zumeist jugendlichen Fans ankommt, es sind auch die Themen, für die Måneskin stehen. Für die 16-jährige Konzertbesucherin Maike aus Berlin ist Bassistin Victoria de Angelis ein Vorbild. Sie sei die eigentliche Frontfrau der Band und verkörpere ein starkes Frauenbild, das in der restlichen Gesellschaft kaum abgebildet sei, meint Maike.
De Angelis und Schlagzeuger Ethan Torchio gehören zudem der LGBTQ+-Gemeinschaft an, womit wiederkehrende Kritik an den heterosexuellen Mitgliedern der Band, sie würde mit ihren flamboyanten Glamrock-Auftritten in Strapsen und High Heels »Queerbating« betreiben, also sich bei der schwulen, lesbischen und trans Community anbiedern, zumindest teilweise entkräftet.
Ein anderer Konzertbesucher lobt im Gespräch explizit den Song »Gasoline« auf dem aktuellen Album, der sich gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine richtet, ein Stück, das die Band auch an diesem Abend in Berlin spielt.
Die ChatGPT Version eines Rockkonzerts
Die meisten der jungen Zuschauer, die man an diesem Abend befragt, geben an, ansonsten eigentlich keine Rockmusik zu hören, obwohl sie wie die Musikerinnen auf der Bühne oftmals Glamrock-Attribute wie Make-up mit viel Kajal und Netzstrümpfe tragen. Kein Wunder, die dominanten Musikstile in den Charts und Streaming-Playlisten sind Pop und Hip-Hop. Aber auf Måneskin haben sich alle trotzdem geeinigt. Es hat nur nicht mehr viel mit dem Geist früherer Rockmusik zu tun.
Darunter leidet in der Mercedes-Benz-Arena ein wenig die Stimmung. Es gibt keine Moshpits, kein Gedränge, keine Bewegung, keinen Schweiß. Stattdessen liegt der sanfte Geruch eines Armani-Parfums in der Luft. In dieser etwas seltsamen, aber wohligen Atmosphäre wirkt das animierende, von Damiano David zwischendurch immer mal wieder eingeworfene »Let’s go, fuckers!« wie von einem Rock’n’Roll-Teleprompter abgelesen und wenig provokant oder gar gefährlich. Der Auftritt wirkt echt und gleichzeitig so künstlich wie eine von ChatGPT verfasste Version eines Rockkonzerts.
Ihre Fans erreichen Måneskin vor allem im Internet. Die Band ist reichweitenstark auf TikTok und Instagram, jedes Bandmitglied hat mehrere Millionen Follower. Sie erfüllen bei ihrer Fangemeinde offenbar ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das war schon immer die Aufgabe von Pop, in der Distinktion die Gemeinschaft zu finden. Wer Måneskin-Fan ist, hebt sich von der Masse der Rap- und Popkonsumenten klanglich und optisch ab.
Eine Zusammenkunft bei so etwas Altmodischem wie einem Rockkonzert, das hier zum Safe Space wird, ergibt vielleicht auch ein Gefühl von Sichtbarkeit in einer zunehmend virtuellen und sich stetig weiter fragmentierenden Welt. Und das ist am Ende dieses Abends dann doch auch tröstlich.