Wenn Fatma am Sonntag mit Nein stimmt, dann stimmt sie auch gegen ihren kurdischen Vater. Er ist Polizist und überzeugter Erdoğan-Anhänger. Dass Fatma, die in Wirklichkeit anders heißt, nicht nur Erdoğans Verfassungspläne ablehnt, sondern auch die Oppositionskampagne mitorganisiert, soll ihr Vater nicht wissen. Deswegen will sie auch nicht mit Bild in diesem Artikel erscheinen.
Längst stellt das Referendum über die türkische Verfassung nicht nur die Türkei im Allgemeinen vor eine Zerreißprobe. Vielmehr geht der Riss mitten durch viele Familien. Besonders gespalten sind die Kurden.
Mit 15 Jahren politisierte sich Fatma. „Eine Freundin gab mir Bücher, ich wurde zur Sozialistin", erzählt die nun 19-Jährige in einem fensterlosen Raum der Istanbuler Zentrale der Haziran-Bewegung. Haziran ging aus den Protesten im Gezi-Park hervor, vereinte zahlreiche oppositionelle Gruppen und führt nun gemeinsam mit den Oppositionsparteien CHP und HDP den Wahlkampf gegen Erdoğans Verfassungsreform an. Seit Wochen kommt Fatma jeden Tag ins Büro, versucht am Telefon linke Aktivisten als Wahlbeobachter zu gewinnen und koordiniert Aktionen auf der Straße.
Aktiv ist sie seit den Gezi-Protesten. „Das hat sich damals bis in unser Dorf ausgewirkt und mich tief berührt", sagt Fatma, ohne ins Detail über ihre Kindheit außerhalb Istanbuls gehen zu wollen. Die Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Vater machen ihr zu schaffen, ein heikles Thema. Sie trägt ihre langen Haare offen, ein Piercing in der Nase. Beim Gespräch in der Haziran-Zentrale redet Fatma gegen ältere Kolleginnen an, um sich Gehör zu verschaffen. Und doch ist es eben auch für sie nicht üblich, offen gegen den eigenen Vater Stellung zu beziehen. Auch andere junge Kurden können von dieser Zerrissenheit erzählen. Doch weil keiner seine Familie bloßstellen möchte, lehnt fast jeder ein tieferes Gespräch mit Journalisten dazu ab.
Die kurdische Universitätsdozentin Selin muss ebenso wie Fatma mit extrem konservativen Familienmitgliedern umgehen. „Bei den Kurden zählt nicht nur die ethnische Zugehörigkeit", sagt die 30-jährige, die sich ebenfalls bei Haziran engagiert. Ihre kurdischen Verwandten seien glücklich über die Islamisierungspolitik Erdoğans. „Für sie ist Religion wichtiger als Ethnie. Alles, worüber ich mich so aufrege, erfreut sie!", sagt die Aktivistin. Viele Kurden glauben den Berichten der Staatsmedien, welche die PKK als einzig Schuldigen für den neu entfachten Bürgerkrieg im Südosten sehen. Auch war es Erdoğan erfolgreich gelungen, die pro-kurdische HDP als politischen Handlanger der PKK darzustellen. In der Parlamentswahl im Juni 2015 haben noch mehr als 60% der Kurden für die linke HDP gestimmt. Aber in den Neuwahlen im November wechselten etwa eine Million Wähler von der HDP zur AKP und verschafften ihr damit die absolute Mehrheit.
Die Erdoğan-treuen Kurden haben sich in der Türkei meist assimiliert. Sie wollen ihren bescheidenen Wohlstand nicht riskieren, zu dem sie durch die AKP gekommen sind. Auch war es die AKP, die erstmals ernsthaft an einem Frieden mit der PKK interessiert war. Besonders die Kurden von den Dörfern und die kurdischen Arbeiter in den Städten sind vom zupackenden Wesen Erdoğans und seinem politischen Islam angetan. „Wie die anderen Türken auch lassen sie sich von den neuen Straßen und dem Präsidentenpalast beeindrucken", wundert sich Selin. „Obwohl ihnen das überhaupt nichts nutzt!"
Auch Präsident Erdoğan weiß, wie wichtig die Kurden für das Referendum am Sonntag sind. Anfang April besuchte er die Kurden-Hauptstadt Diyarbakir und führte sich als Beschützer der Rechte der Kurden auf. Ob diese Strategie aufgehen wird, ist fraglich. Im Parteibüro der HDP im Istanbuler Viertel Üsküdar berichten fast alle Aktivisten, wie sie derzeit vor allem in ihren eigenen kurdischen Familien für ein Nein zur Reform werben. Eine Aktivistin berichtet von einer Verwandten, die gegen ihre enge Familie heimlich mit Nein stimmt. Ein Aktivist konnte diesmal zwei Neffen überzeugen, die sonst AKP wählen. Die Machtkonzentration bei Erdoğan geht auch vielen Kurden deutlich zu weit.
Fatma diskutierte bis zuletzt mit ihrer Familie - abgesehen vom Vater. Eine ihrer Schwestern wird nun mit Ja stimmen, die andere mit Nein. Und auch auf ihre Mutter hat Fatma eingeredet: „Ich habe ihr von der Unterdrückung der Frauen erzählt. Seit die AKP regiert, gibt es immer mehr Vergewaltigungen. Manche Frauen werden sogar von ihren Ehemännern ermordet", empört sich die junge Aktivistin. Vor ein paar Tagen telefonierte Fatma mal wieder mit ihrer Mutter. „Sie meinte, mein Vater soll das nicht erfahren. Aber sie wird diesmal gegen die AKP stimmen, mit Nein."
Veröffentlicht am 15. April 2017