Zwischen den Wahlkämpfern steht Mustafa mit seinen Sesamringen. Bei ihm, im Istanbuler Viertel Kadıköy, kaufen derzeit nicht nur die Passagiere der Bosporus-Fähren ihre Simits, bevor sie von der asiatischen auf die europäische Seite Istanbuls fahren. Nun gehören auch die politischen Aktivist*innen zur Stammkundschaft bei Mustafa, dem jungen Sesamringverkäufer.
„Haben wir dich immer noch nicht überzeugen können?", fragen die Hayır-Kämpfer*innen grinsend. Sie kommen von den Oppositionsparteien CHP und HDP, die jeweils direkt neben dem Simit-Wagen ihre Zelte für den Wahlkampf aufgebaut haben. Die Wahlkampflieder schallen über den Platz direkt neben dem Fähranleger und werben für ein Nein zur Verfassungsreform. Im liberalen Kadıköy weiß die Opposition die Mehrheit der Bewohner hinter sich. Der Simit-Verkäufer Mustafa aber tendiert zu einem Evet - einem Ja zur Verfassungsreform. „Es ist wie beim Fußball", ruft Mustafa über die Verkaufstheke. „In einem Team gibt es nicht drei oder vier Kapitäne, sondern nur einen. Ansonsten herrscht Chaos. Es muss einen klaren Führer geben!"
Wie viele seiner Landsleute fühlt er sich durch die internationale Ablehnung von Erdoğans Politik in seiner Haltung bestärkt: „Die anderen Länder wollen nicht, dass die Türkei stark wird", sagt Mustafa mit einem Zwinkern und klimpert mit den Münzen in seiner Kasse. „Also wird die Reform für uns wohl nicht so schlecht sein." Dennoch könnte er am Ende auch mit Nein stimmen, zeigt sich offen für Argumente. „Ich bin nicht wie ein Pferd mit Scheuklappen. Es ist wichtig, immer einen weiten Horizont zu bewahren." So hofft er, dass es am Sonntag auch bei einem mehrheitlichen Nein friedlich bleibt. „In schwierigen Zeiten rücken die Leute zusammen, egal welcher Meinung sie sind. Das Volk liebt einander."
Deswegen wundert es auch nicht, dass er seinen Freunden vom Wahlkampf-Stand der CHP einen intelligenten Vorschlag gemacht hat. Seit ein paar Wochen steht hinter seinem Simit-Wagen eine Leinwand mit Videos gegen die Verfassungsreform. „Hier kommen so viele Leute vorbei, nur laute Musik reicht doch nicht", freut sich Mustafa über seinen Einfall.
Smit-Verkäufer Mustafa hofft sich vor allem, dass nach dem Referendum die Lage friedlich bleibt. Foto: Nico Schmolke
Dann dreht ein CHP-Aktivist den Ton vom Video herunter und eine Studenteninitiative kommt zum Zug. Die Oppositionellen wechseln sich alle 30 Minuten mit ihrer Musik ab. Jetzt wird also zu den Liedern der jungen Studenten getanzt. Musik und Tanzen, das geht immer, auch am Morgen. So geht Wahlkampf auf Türkisch. Am Rande stehen ein paar Frauen und wippen mit.
Merve Yıldırım ist eine von ihnen. Mit ihren Tanten und Cousinen will die 29-Jährige zur Fähre, für einen Ausflug zum großen Bazar in der Altstadt. Vorher aber ein bisschen Tanzen, ein bisschen den Hayır-Kämpfern zuzwinkern, Präsenz zeigen. „In Kadıköy sind wir gegen Erdoğan. Wir wollen kein Ein-Mann-System", sagt Merve, die schnell von den anderen Frauen übertönt wird - jede will hier ihre Meinung sagen. Merves Tante zum Beispiel kommt aus der konservativen Schwarzmeer-Region und unterstützt normalerweise die nationalistische MHP. Diesmal aber stimmt sie gegen die Linie der Parteiführung mit Hayır: „Die AKP ist doch selbst Schuld am Putsch. Wer hat die Gülenisten ins Militär gebracht? Das war doch die AKP!"
Doch Merves Tante teilt nicht nur gegen die AKP aus: „Die kurdische HDP ist nicht besser, das sind alles Terroristen!" Immer wieder bleiben Männer stehen und lauschen den aufgeregten Frauen. Politik ist in der Türkei keine Privatsache. Wer laut seine Meinung äußert, wird schnell von Interessierten umringt. Dann beginnt der kurdische Halay-Tanz und Merves Familie verschwindet schnell auf die Fähre.
Die Musik spielt nun also vor dem Zelt der prokurdischen HDP. Versteckt hinter bunten Fahnen wirken Bircan Şahin und ihre Kolleg*innen müde vom langen Wahlkampf. Hier in Kadiköy erfahren sie nicht viel Gegenwehr, aber in anderen Stadtteilen und Regionen des Landes sind die Bedingungen hart. „Wir bekommen die Repressionen besonders zu spüren. Im benachbarten Üsküdar wurden einige unserer Zelte sogar verbrannt!", empört sich die 60-jährige Bircan. „Außerdem werden viele von uns festgenommen. Erst gestern bei der Frauen-Demonstration in Kadiköy hat mir ein Polizist gedroht, dass wir nach der Verfassungsänderung alle eingesperrt werden." Die Jesidin war schon nach dem Militärputsch von 1980 gezwungen, die Türkei zu verlassen. Als Flüchtling lebte sie unter anderem in Deutschland und kam fünf Jahre später zurück in ihre Heimat. „Mein ganzes Leben ist Opposition", sagt Bircan.
Bircan Şahin (rechts) am HDP-Stand in Kadıköy : Nico Schmolke
Trotz Repression geht der Wahlkampf also weiter, um die vielen Unentschlossenen für ein Nein zu gewinnen. „Immer wieder kommen Leute zu uns, die sich noch nicht entschieden haben", sagt Bircan. „Wir erklären ihnen, um was es bei der Verfassungsänderung geht und warum sie mit Nein stimmen sollen." Laut Umfragen sind sich bis zu 15% der türkischen Wähler noch unsicher, wie sie entscheiden werden.
Das weiß auch die AKP und hat in geringer Entfernung zum Nein-Lager ihr eigenes Zelt aufgeschlagen. Alte Männer äugen misstrauisch nach draußen und schicken ihre jungen Mitstreiter vor, zum Beispiel Metin Ayyıldız. Mit seinen zerschlissenen Jeans und weißen Sneakers steht der 20-Jährige in der Mitte der Promenade und spricht von der Größe Erdoğans. Neben ihm springen junge Mädchen mit offenen Haaren in Evet-Westen vor den Passanten herum und winken mit ihren Flyern. Die meisten laufen stoisch vorbei oder lehnen schnalzend ab.
Im liberalen Viertel Kadıköy treffen AKP-Aktivist*innen, wie Metin Ayyıldız, auf Misstrauen. Bild: Nico Schmolke
Andere aber können sich nicht halten. Ein bulliger Mann stoppt neben Metin, mustert ihn despektierlich und legt dann los: „Nenne mir einen guten Grund, warum ich mit Ja stimmen soll - und dann werde ich es tun!" Der schlaksige Metin weicht ein paar Zentimeter zurück, will gerade ansetzen, aber der Mann brüllt ihn nieder. Schnell stehen zehn Leute herum, lauschen aufmerksam - und schon zieht der wütende Mann ab. Aus dem AKP-Zelt kommt einer der Alten in Anzug zu Metin und redet beruhigend auf ihn ein.
„Die anderen sind unhöflich, aber wir bleiben höflich", meint Metin. Er hätte dem wütenden Mann gerne von all den Straßen, Tunneln und Brücken erzählt, die Erdoğan für die Türkei gebaut hat. Aber in Kaıiköy will ihm keiner zuhören. Man interessiert sich hier weniger für Beton und mehr für Freiheiten. Auf die Verhaftungswelle angesprochen, sagt der junge Wahlkämpfer mit mittlerweile heiserer Stimme: „Das haben sich die Akademiker und Journalisten ihrer eigenen Arroganz zu verdanken."
Während Metin den kurzen Vorfall verdaut, kommt eine alte Frau von der Seite. „Und ihr seid Atatürks Kinder!", ruft sie ihm ironisch entgegen. Im Weggehen murmelt sie noch vor sich hin: „Na toll, das ist jetzt unsere Zukunft."
Veröffentlicht am 15. April 2017