„Wir schaffen das", sagt Angela Merkel. Anja Boensch sagt: „Ich schaffe es nicht mehr." Und schmeißt ihren Job als Heimleiterin hin. Sie sollte eine Notunterkunft für 200 Flüchtlinge leiten, in einer vom Senat beschlagnahmten Turnhalle. Stattdessen musste sie das Berliner Flüchtlingschaos ausbaden, wie sie selbst sagt. Zu wenig Essen, kaum medizinische Versorgung, wochenlang viel zu wenig Mitarbeiter, Hausverbote für Ehrenamtliche, die Liste an Vorwürfen gegen den privaten Betreiber der Unterkunft ist lang. Der Verwaltung scheint die Kontrolle zu entgleiten.
Für Anja Boensch begann alles am 17. November. Als klar wurde, dass in der Turnhalle des Freizeit- und Erholungszentrums (FEZ) in Berlin-Köpenick eine Notunterkunft eröffnen soll, fuhr sie hin. Nach einem Gespräch mit den zukünftigen Betreibern und ihrer Mithilfe bei der Eröffnung wurde sie angestellt, schloss mündlich einen Arbeitsvertrag. Boensch, 40, hat ihre Haare leicht rot gefärbt, trägt sie meistens als Irokese. Gelernte Fleischerin ist sie und seit vielen Jahren nur selten berufstätig.
Sie holte das Abitur nach, ein Studium brach sie aus finanziellen Gründen ab. Als alleinerziehende Mutter weiß sie, was Verantwortung bedeutet. Schon seit längerem engagiert sie sich ehrenamtlich in Unterkünften für Flüchtlinge. Dass die privaten Betreiber der Notunterkunft am FEZ sie sofort als Heimleiterin und Sozialarbeiterin beschäftigen wollten, habe bei ihr Euphorie ausgelöst. „Endlich wieder ein Job, und dann gleich im Flüchtlingsbereich!"
Verträge für neue Notunterkünfte werden mit den Betreibern derzeit nicht mehr geschlossen, sagt Pressesprecherin Monika Hebbinghaus von der Senatsverwaltung für Soziales und Gesundheit. Es gibt lediglich schriftliche Absichtserklärungen, um die Unterkünfte rechtmäßig zu eröffnen.
Tagessätze von 25 Euro werden deswegen pauschal ausgezahlt. Die Betreiber erhalten vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) pro Flüchtling und Tag zehn Euro für Verpflegung und 15 Euro für Personal- und Sachkosten. Das macht für die Halle am FEZ für den Betreiber L.I.T.H.U. bei Belegung mit 200 Flüchtlingen am Tag 5 000 Euro, im Monat 150 000 Euro. Kosten für Wachpersonal und Reinigungskräfte werden zusätzlich ausgezahlt. Die Betreiber beauftragen dazu Fremdfirmen.
Als Lohn erhielt Anja Boensch als Heimleiterin und Sozialarbeiterin für die zehn Tage im November 383,54 Euro, ihre Schwester für die Arbeit im Cateringbereich 246,32 Euro. Unklar ist, wie viel der über den Tagessatz geflossenen Einnahmen die beiden Geschäftsführer von L.I.T.H.U. sich selbst ausgezahlt haben oder wofür das restliche Geld sonst noch verwendet wurde.
Doch Anja Boensch wird nur zwei Wochen bleiben. Mit Ausnahme eines Sonntags war sie 15 Tage hintereinander in der notbelegten Turnhalle, teilweise elf Stunden am Stück. Gemeinsam mit ihrer Schwester war sie neben dem Sicherheitspersonal die einzige Hauptamtliche, die für die Flüchtlinge ansprechbar war. Dann kündigten beide fristlos. „Unter diesen Bedingungen wollte ich nicht länger arbeiten", so Boensch.
Mit „diesen Bedingungen" meint sie vor allem die Zusammenarbeit mit dem Betreiber der Notunterkunft. Große und erfahrene Träger haben kaum noch Kapazitäten. Einige schließen in ihren Satzungen sogar aus, Turnhallen als Notunterkünfte zu betreiben. Also nutzen private Heimbetreiber die Gunst der Stunde. Einer dieser Betreiber ist die L.I.T.H.U. Projektmanagement gGmbH, mit Sitz in Teltow, verantwortlich für die Notunterkunft am FEZ. Das „g" vor GmbH steht für „gemeinnützig". Geführt wird das junge Unternehmen von einem Ehepaar, Ulrike und Thilo Krause, beide Anfang 30. Sie betreiben mittlerweile schon vier Notunterkünfte in Berlin, wie die Senatsverwaltung für Soziales bestätigt, alle eröffnet innerhalb von etwa drei Wochen.
Kein Wasser für die BewohnerDoch schon bei der ersten Unterkunft am FEZ zeigt sich, dass die Betreiber überfordert sein könnten. Zu Europas größter Jugendeinrichtung mit fast einer Million Besuchern im Jahr gelangt man über den S-Bahnhof Wuhlheide. Zu Fuß geht es durch die Wuhlheide, vorbei an der großen Freilichtbühne. Kindergruppen klettern unter Aufsicht auf Spielplätzen herum. Zum Gelände gehört auch die beschlagnahmte Turnhalle. Die Wiese davor ist mit Bauzäunen abgesperrt, ein rotes Flatterband soll Schaulustige fernhalten. Wer dennoch zum Eingang der Halle geht, wird vom Sicherheitspersonal angesprochen. Für ein Gespräch stehe die „Chefin" nicht zur Verfügung, heißt es nach längerem Warten. Und man solle doch bitte gehen, jetzt. „Ja, das ist eine Aufforderung."
Stattdessen reden einige der Flüchtlinge, die sich draußen die Beine vertreten. Schnell rufen sie weitere Freunde zusammen, wollen ihre Geschichten erzählen. Wenn sie über Boensch sprechen, machen sie mit den Händen Bewegungen über dem Kopf. Der Irokesen-Haarschnitt ist für viele Flüchtlinge ein Blickfänger. Sie sei immer dagewesen, habe sich gekümmert, Erkältungstees gebracht, wenn jemand krank war. Seit der Kündigung von Boensch würden sie immer die Wachleute ansprechen. „Das sind die einzigen, die für uns da sind. Die beiden Chefs im Büro sprechen ja nicht mal Englisch", sagt einer der Flüchtlinge. Erst lässt er sich fotografieren, buchstabiert seinen Namen. Dann kommt Ulrike Krause herausgelaufen, fordert die Flüchtlinge auf, wieder reinzugehen. Hektisch spricht sie in ihr Telefon. Der Hallenbewohner möchte, dass Foto und Namen doch wieder gelöscht werden. Das Misstrauen ist groß.
Der Helfer Steffen Franz lässt sich davon nicht einschüchtern. Er war von Anfang an dabei, als die Unterkunft eröffnete. Koordinierte das ehrenamtliche Engagement, schlief wenig. Weil er Entscheidungen trifft, die eben getroffen werden müssen, legte er sich schnell mit den beiden Betreibern an. Gleich am Sonnabend, nach der Nacht des Einzugs, gibt es kein Wasser mehr. Nach der abendlichen Essensausgabe sagt der Betreiber Thilo Krause vor versammelter Helferschaft, die kleinen Wasserflaschen würden auf dem ganzen Gelände verteilt herumliegen. Und dann sagt er, die Flüchtlinge würden mit dem Flaschenpfand Geld sammeln. Was nach einem Widerspruch klingt, heißt für Thilo Krause: Jetzt gibt es eben nur noch Kaffee und Tee.
Franz war empört: „Du kannst den Kindern und den Kranken abends doch nicht nur Kaffee und Schwarztee anbieten. Wie sollen die denn schlafen?" In den Qualitätsvorgaben des Lageso steht: „Zusätzlich zu den Mahlzeiten sind alkoholfreie Getränke in ausreichender Menge (mindestens zwei Liter Wasser pro Person zzgl. anderer Getränke) zur Verfügung zu stellen." Und deswegen rief er auf Facebook dazu auf, Wasser zu spenden. Mehr als ein Dutzend Menschen kam vorbei, empört, dass jetzt sogar schon Wasser gespendet werden muss. Aber eben dennoch hilfsbereit, Hunderte Liter Wasser kommen zusammen. Kurze Zeit später habe er einen Anruf erhalten, sagt Franz. Er solle sich mal eine Auszeit gönnen, hätten ihm die Betreiber empfohlen. In Zukunft solle er die Halle nicht mehr betreten.
Steffen Franz eckt mit seiner direkten Art an, kommt auch mit Anja Boensch nicht so gut klar. Aber Boensch bestätigt alles, was Franz sagt, genauso wie mehrere weitere Ehrenamtliche. Der Wille, den Flüchtlingen zu helfen, lässt persönliche Differenzen verblassen und schweißt die Helfer zusammen. Über die Betreiber hingegen verliert niemand mehr ein gutes Wort. Denn die Liste der Vorwürfe, die alle Beteiligten den Krauses machen, ist noch viel länger.
„Ich bin zu naiv gewesen"Während das Wasserproblem mittlerweile durch einen Wasserspender gelöst sei, gebe es Probleme beim Essen, so Boensch und die Flüchtlinge. Morgens und abends gibt es drei Scheiben ungetoastetes Toastbrot, mit etwas Käse- und Wurstbeilage, wie alle Beteiligten bestätigen. Am Abend des 21. November, einen Tag nach dem Einzug, reicht dieses wenige Essen nicht. Einige Flüchtlinge bekommen noch zusammengekratzte Käsereste, andere gehen leer aus. Hygieneartikel gibt es nur, weil einige Helfer auf eigene Kosten einen Drogerieladen halb leer kaufen.
Dabei gibt es auch hier Vorgaben. In den Leistungsbeschreibungen zum Betrieb einer Aufnahmeunterkunft steht: „Der Betreiber muss unter Berücksichtigung der kulturspezifischen Gegebenheiten die Verpflegung organisieren und Hygieneartikel und andere Sachleistungen bereitstellen." Weil Flüchtlinge in den Notunterkünften meist keine Geldleistungen erhalten, viele sind noch gar nicht registriert, wären sie auf solche Sachleistungen dringend angewiesen. In ganz Berlin fehlen diese Hygieneartikel, Windeln und Babycreme, Binden, Duschbad. Viele Helfer bestätigen, dass der Bedarf in den Notunterkünften nur durch Spenden gedeckt werden könne. Besonders die privaten Betreiber würden sich auf dieser Hilfsbereitschaft ausruhen.
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