Irgendwann wird Alex alles zu viel. Der Trubel, die Unruhe, die Unsicherheit. Mehrere Flüchtlinge schlafen damals in seiner Berliner Wohngemeinschaft. Sie mussten untertauchen, um nicht nach Italien abgeschoben zu werden. Alex hat sie bei sich aufgenommen. Doch er fühlt sich nicht mehr wohl. Zu viele Menschen auf engem Raum, Verständigungsprobleme, das geht nicht gut auf Dauer.
Für einen Moment fährt Alex sein Engagement zurück, denkt über seine Zukunft nach. Da sind nicht nur die Flüchtlinge, mit denen er auf engem Raum zusammenlebt. Er hat sich bei Flüchtlingsprotesten an Sitzblockaden beteiligt, ist deshalb zu Geldstrafen verurteilt worden. Er fühlt sich überfordert. Was tun? Aufgeben? Wegschauen, wie so viele andere? Aber nein. Alex spürt, dass er gebraucht wird. Und macht weiter. Das ist ein paar Monate her. Jetzt ist Alex wieder dabei.
Während Deutschland über die Flüchtlingspolitik diskutiert, über sichere Drittstaaten und Aufnahmequoten, über Anschläge auf Sammelunterkünfte und über Willkommensinitiativen, nehmen einige Aktivisten das Recht selbst in die Hand. Sie wollen nicht akzeptieren, dass Flüchtlinge am Rande der Gesellschaft leben. Und dass manch sogar auf der Straße landen.
Die Armut in der Welt mit eigenen Augen gesehenAlex gehört zu diesen Aktivisten; er gibt Flüchtlingen ein Obdach. Er ist ihnen Freund, Psychologe, Sozialarbeiter und Anwalt zugleich. Für manche, die in ihrem Leben alles verloren und nun auch in Deutschland kein Zuhause gefunden haben, ist er die letzte Hoffnung. Er weiß das. Es motiviert ihn, und gleichzeitig bringt es ihn an seine Grenzen.
Alex ist nicht allein, er ist einer von vielen in Berlin. Durch die Proteste auf dem Oranienplatz, in der Gerhart-Hauptmann-Schule und anderen Orten in Berlin sind zahlreiche Netzwerke gegenseitiger Hilfe entstanden. Einige Hundert Aktivisten kümmern sich Schätzungen zufolge außerhalb jeglicher Institutionen um Flüchtlinge ohne Aufenthaltsrecht. In den Kirchen gibt es weitere Hunderte, die Kirchenasyl für Betroffene organisieren. Doch auch das reicht nicht aus für die vielen Hilfsbedürftigen. Manche Schätzungen gehen von mindestens 5000, andere von 10.000 Flüchtlingen ohne Aufenthaltsstatus in Berlin aus.
Alex heißt eigentlich anders; er will nicht erkannt werden, er fühlt sich verantwortlich für die untergebrachten Flüchtlinge und will deren Sicherheit nicht gefährden. Alex ist 23 Jahre alt, er stammt aus einem Akademiker-Haushalt, im Herbst des Jahres 2012 ist er zum Studieren nach Berlin gekommen. Warum setzt er sich für Flüchtlinge ein? Was bringt ihn dazu, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen?
Auf Plakaten appelliert der Senat an die Berliner, Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Die vermittelnde Institution ist das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk (EJF). Kontakt unter der Mail-Adresse wohnungen-fuer-fluechtlinge@ejf.de
Eine private Initiative ist „Flüchtlinge Willkommen". Vier Berliner sammeln Adressen von Menschen, die ein Zimmer oder eine Wohnung zu vermieten haben, und arbeiten mit Hilfsorganisationen zusammen. Mehr dazu unter www.fluechtlinge-willkommen.de
Die Schlafplatz-Orga versucht, für obdachlose, zum Teil illegale Flüchtlinge in Berlin eine temporäre Unterkunft bei Unterstützerinnen zu organisieren. Wer helfen will, kann sich unter folgender E-Mail-Adresse melden: schlafplatzorga@gmail.com Telefon: 0176-37 32 54 99.
In einer türkischen Bäckerei am Kottbusser Tor erzählt Alex mit ruhiger, klarer Stimme und fokussiertem, freundlichem Blick, wie alles begann. Mit frischen Erfahrungen aus einem Auslandsjahr in Afrika kommt er im Herbst 2012 zum Studieren nach Berlin. Alex hat die Armut der Menschen in anderen Teilen der Welt gesehen. „Nahrungsmittelspekulation, Ausbeutung von Ressourcen, Waffenexporte, all das zerstört die Perspektiven der Menschen in den Entwicklungsländern", sagt er und nimmt einen Schluck von seinem türkischen Tee.
Und nun kommen sie als Flüchtlinge nach Europa, nach Deutschland. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren nicht mehr so viele Menschen auf der Flucht wie im Jahr 2015. In Deutschland landen die Flüchtlinge in Sammelunterkünften, für Monate, oft für länger als ein Jahr. Keine Arbeit, keine Wohnung, kein Anschluss an die Gesellschaft.
Zeiten der UngewissheitAlex nimmt sein Studium auf, derweil wächst Monat für Monat eine Bewegung von Asylsuchenden und ihren Unterstützern, die sich von Bayern auf ganz Deutschland ausbreitet. Die Geflüchteten protestieren gegen ihre Unterbringung in isolierenden Unterkünften, gegen die Residenzpflicht, gegen Arbeitsverbote, gegen Behördenwillkür. Es gibt Selbsttötungen, andere Flüchtlinge nähen sich symbolisch die Lippen zu. Öffentlichkeitswirksam setzt sich schließlich ein Demonstrationsmarsch von Würzburg nach Berlin in Bewegung. Dort angekommen, wird im Oktober 2012 auf dem Oranienplatz ein Protestcamp aufgeschlagen. Ein Camp, das die Republik spaltet.
Alex kennt die deutsche Asylpolitik genau, beobachtet das politische Geschehen. Die Flüchtlingsbewegung trifft für ihn den Kern des Problems, denn Geflüchtete treten hier für ihre eigenen Rechte ein. „Es geht um mehr als um ein paar Gesetze. Die Geflüchteten wollen nicht mehr Menschen zweiter Klasse sein", so Alex. Die Betroffenen organisieren sich selbst, kämpfen für gleiche Rechte, sie wehren sich, sind aktiv. Demonstrationen, das Verlassen zugeordneter Landkreise, das Wohnen außerhalb von Sammelunterkünften, all das ist eigentlich gar nicht vorgesehen, manches strafbar. Alex ist begeistert von so viel Energie; er macht mit. Woche für Woche ist er auf dem Oranienplatz stärker involviert, sein Organisationstalent und seine Ausgeglichenheit werden geschätzt.
Dann beginnt die Zeit der Ungewissheit.Viele Flüchtlinge haben Angst vor einer Räumung durch den Innensenator. Die Mehrheit lässt sich nach monatelangen Verhandlungen auf ein Abkommen mit dem Senat ein. Einige haben lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung in Italien, wo ihnen die Verelendung droht. Ein weiterer Teil steckt noch in Asylverfahren. Und die restlichen dürften eigentlich gar nicht mehr hier sein. Ihre Asylanträge sind abgelehnt worden, ihre Duldungen ausgelaufen. Das Abkommen verspricht nun all den Protestierern, dass jeder einzelne Fall in Berlin noch mal geprüft wird, wohlwollend. Die Flüchtlinge erhoffen sich eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die Hauptstadt. Eine Zukunftsperspektive. Ein Ende ihrer Flucht.
Jederzeit kann die Abschiebung drohenIm Gegenzug bauen die Aktivisten im April 2014 die Zelte ab und ziehen in die vom Senat bereitgestellten Unterkünfte. Nun beginnt das Warten. Nach einigen Monaten läuft die Vereinbarung aus. Nur drei von 500 Fällen sind positiv beschieden worden, der Rest muss Berlin verlassen. Von einem auf den anderen Tag stehen die Menschen vor ihren Unterkünften.
Die meisten müssen sofort ausreisen, keiner hat ein Dach über dem Kopf. Doch viele Geflüchtete haben sich längst Freunde gesucht, fühlen sich in Berlin menschlich und politisch zu Hause, auch durch Unterstützer wie Alex: „Sie hatten das erste Mal das Gefühl, von der Öffentlichkeit gehört zu werden." Sie wollen nicht in ihre Herkunftsländer zurück oder nach Italien. Sie wollen nicht wieder verfolgt werden, sie wollen nicht wieder im Krieg leben, sie wollen nicht verelenden. Sie wollen bleiben, auch wenn sie dafür nun abtauchen müssen.
Alex ist einer derjenigen, der ihnen das ermöglicht. „Schon vor der Auflösung des Protestcamps sind Unterstützerkreise entstanden, die Dutzenden Betroffenen Zimmer bereitstellen." Auch Alex hat sich bereit erklärt, eine Gruppe von etwa zwölf Geflüchteten zu unterstützen. „Wir wollen ihnen dabei helfen, sich politisch Gehör zu verschaffen", sagt er. Flyer werden gedruckt, kleine Demonstrationen organisiert, ab und zu werden auch Partys gefeiert. Und Alex macht noch mehr. Er sucht Schlafplätze für die Flüchtlinge und auch für deren Freunde, organisiert BVG-Tickets, hilft bei Behördengängen.
Auf der Webseite können sich interessierte WGs direkt anmelden. Anschließend werden Informationen über die Wohnsituation benötigt.
Sogar eine Wohnung wird angemietet, in der Flüchtlinge schlafen können. „Die Unterbringung von Illegalisierten ist ein krasser Ausnahmezustand, für alle. Auf dem Weg zum Supermarkt könnte jederzeit die Abschiebung drohen. Und dann ist dein Mitbewohner weg", sagt Alex. Die Belastung des Engagements ist enorm, die persönliche Verantwortung für das Schicksal anderer Menschen hoch. Alex nimmt das in Kauf; er hat Ideale.
Die Beziehung zum Vater leidet, Alex und er haben sich entfremdet. „Er kauft so einen teuren Küchentisch, damit allein könnten sich einige Flüchtlinge ein neues Leben aufbauen." Die meisten Freunde hingegen unterstützen Alex. Mit denen, die sein Engagement kritisch sehen, hat er nichts mehr zu tun. Im privaten Umfeld will er nicht auch noch die Kämpfe ausfechten, die bereits sein politisches Leben bestimmen. Es gibt kleine Erfolgserlebnisse, mal kann eine Abschiebung verhindert, ein Bleiberecht erkämpft werden. Das motiviert Alex. Andererseits fragt er sich, ob er wirklich etwas verändert. Er hilft denen, die Deutschland hier nicht haben will. „Wir lindern die Not, das System an sich bleibt dadurch gleich." Was die Tafeln für die Armen sind, das ist Alex für illegale Flüchtlinge. Die Hilfsbedürftigen sind von den Gutwilligen abhängig. Individuelle Not wird gelindert. Abgeschafft wird sie nicht.
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