Die Scheibe ist regennass. Zwei Menschen dahinter, verschwommen. Unter dem Bild steht: „Was sagt ein Streit in der S-Bahn über Deutschland". Im Text geht es um eine mutmaßliche Attacke eines beim Schwarzfahren erwischten Rentners auf den Kontrolleur.
Was sagt ein Streit in der S-Bahn über Deutschland? Präzise geantwortet: dass es mindestens eine S-Bahn gibt. Dass Menschen in Deutschland offensichtlich manchmal in Streit geraten können. Dass weder das Kontrollieren noch das Kontrolliert-Werden eine besonders spaßige Angelegenheit ist.
Wer will aus einem solchen Einzelfall eine Diagnose über ein ganzes Land von fast 80 Millionen ableiten? Die Bildunterschreibenden zumindest. Man wünscht es sich, nein genauer: Ich wünsche es mir kleiner. Warum ich „Ich" schreibe, wird später zu klären sein. Ich will es kleiner, ohne direkt ein ganzes Land. Alles, eine jede Regung, ein jeder Konflikt wird in einer solch hypersensiblen Deutung, die im Kleinen immer das Große vermutet, politisch bedeutsam. Der Appell ist klar: Es geht uns alle an.
Es gibt diese Generalisierungen in ganz unterschiedlichen Ausformungen. Und sie stehen jeden Tag in den Zeitungen: Deutschland verliert im Halbfinale; weiße, alte Männer sind verantwortlich für die Übel in der Welt; Donald Trump ist ein Rassist; die literarischen Klassiker sind uns völlig fremd.
Anekdoten werden zu Determinationen. Ähnlichkeiten werden zu Identitäten, zeitliche Abfolgen zu Kausalitäten. Handlungen, die jemand tut, gehen über in Fleisch und Blut: Donald Trump sagt nun nicht mehr nur Rassistisches, er wird dazu. Die Vorsicht, die eine analytische Distanz geböte und die auch rhetorisch dazu anhielte, tastend zu formulieren (ich denke; wenn..., dann...; in dieser Hinsicht...), ist nicht zu erkennen. Eine aufgeklärte Intellektualität zeigte sich, so meine ich, vor allem darin, die eigene Thesenbildung transparent zu machen. Das Denken als Trial and Error zu zeigen.
Man fährt einen Nachmittag U-Bahn in Berlin, man trägt einen Tag den Ganzkörperschleier und man weiß nun, so suggeriert es der Text bevorzugt, was es mit „dieser Gesellschaft" so auf sich hat. Gerne geht es bergab. Die Stammtisch-Hermeneutik, in der Anekdoten und persönliche Erfahrungen zu einem Abriss der Gesellschaft werden, sie ist auch auf den Debattenseiten der Zeitungen und in den Verlagen von Rang gern gesehen.
Was haben Smartphone und Brazilian Waxing gemeinsam?Byung Chul Han, der Assoziationsautomat, hat eine nicht unbeträchtliche Karriere damit gemacht im letzten Jahrzehnt. Er meinte in einem Interview einmal, Denken sei es, Ähnlichkeiten festzustellen. So kann er dazu kommen, dass das Smartphone und das Brazilian Waxing wesensmäßig zusammenhingen, weil: beides glatt ist. Nackte Assoziation ersetzt das Argumentieren.
Als sich jüngst Peter Richter in der SZ darüber beschwerte, dass nunmehr der weiße, alte Mann allerorten angefeindet werde, da fanden sich die Argumente beider Seiten kondensiert: die alten, weißen Männer bestehen auf ihrer Individualität, auf der richtigen und wichtigen Einsicht, dass nun mal nicht alle gleich seien und zudem Alter und Hautfarbe schwierig zu beeinflussen sind. Es gibt ja auch nette unter ihnen.
Die andere Seite wiederum kann den gewichtigen Einwand machen, dass die alten, weißen Männer nun mal meistens in den Machtpositionen sitzen. Vom Einzelnen zur Struktur. Der Einzelne stehe für ein ganzes Netzwerk der Mächtigen mit Privilegien. Ich kann nur hoffen, dass zumindest Theoretikerinnen oder Theoretiker selbst darum wissen, dass Theoriebildung ein spekulatives Unterfangen ist und sein soll. Man kann es anders sehen. Das ist das Freiheitliche an der Grundordnung: das Auf-Dauer-Stellen der Unterschiedlichkeit der Perspektiven.
Die Zurichtung der Welt, die fast beliebige Verknüpfung von Events in der Art, dass sie sich fügen in die eigene Weltsicht (Flüchtlinge erhöhen die Terrorgefahr, Burkinis sind ein Angriff auf abendländische Werte, die Politik betrügt uns), sie wird gerne assoziiert mit den Wutbürgern, den Abgehängten, Rassisten, denen, die an einer aufgeklärten Debatte kaum interessiert sind. Aber eigentlich ist ein jeder Versuch, die Eigentlichkeiten zu enthüllen, sich zu erheben über diejenigen, über die man spricht, ein Akt der Gewalt.
Ideologiekritik verfährt so: Das Kopftuch sei ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau, deswegen sei es abzulehnen. Eine Deutung, nur eine, wird zum Maßstab. Und mögen auch die „betroffenen" Menschen erzählen aus ihrem Leben, mögen sie erklären, dass sie den Burkini im Gegenteil als Ausdruck ihrer Freiheit verstehen - „falsches Bewusstsein" heißt es da leicht. Deutung ist dann kein stets offener Umgang mit der Vieldeutigkeit, sondern sie ist wie Zementanrühren: Sie soll bleiben.
Auch wer sich im akademischen Feld bewegt, kennt das. Just so, als sei der Prozess der Deutung und der Austausch verschiedener Perspektiven etwas, das es zu überwinden gilt. Dabei besteht hierin, die - nein, falsch: eine der Kerntugenden der Demokratie, der Pluralismus der Lebensweisen als Pluralismus der Weltdeutungen. Ein solches Vorgehen findet sich nicht nur bei den anderen, den weniger Gebildeten oder vom Ressentiment Vernebelten. Es ist durchaus fester rhetorischer Bestandteil der Welterklärungen auf den Debattenseiten von Zeitungen.
Die dort stattfindende Zeitdiagnostik oder in Büchern nimmt sich ein Phänomen, sie weiß, was sie davon zu halten hat, sie legt zuvor fest, was sie im Folgenden in der Untersuchung herauszufinden vorgibt. Diese Art der Kulturkritik will sich als „kritisch" verstehen, weil sie Phänomene der Alltagswelt grundlegend zu kritisieren vorgibt, sich allerdings weigert, auf diese Phänomene auch einzulassen. Denn sie weiß bereits vorab, was sie in einem zweiten Schritt mit Gründen zu belegen sucht.
Es ginge recht leicht anders, leicht ginge es besser. Ein Weg ist die sozialwissenschaftliche Statistik. Wie steht es um den Anstieg der Kriminalität seit 2015? Recht leicht lassen sich so Schauermärchen z. B. zur „Flüchtlingskrise" ausräumen.
Aber wie verhält es sich in etwas komplexeren Fällen, wie steht es um zukünftige Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zum Beispiel? Wie wollen wir leben? Was ist gerecht, was ist zu tun, was ist bezahlbar, was ist das „Eigene", was das „Fremde"? Fragen wie diese sind immer auch spekulative Fragen. Thesen und Zuspitzungen können helfen, Debatten überhaupt in Bahnen zu lenken. Problematisch wird es genau da, wo die Thesen ihren eigenen Charakter als These, als Vorschlag also, unsichtbar machen wollen.
Ein anderer Weg ist das Ausstellen der Skepsis. Die Sichtbarmachung des Zweifels und der Bezweifelbarkeit des Geschriebenen. Die Worte müssten sich vortasten. Denken könnte so als Experiment sichtbar werden. Man könnte dann vom „Ich" sprechen, von den Eindrücken und diese als genau das markieren. In dieser Hinsicht ist der ziemlich ungefilterte Subjektivismus einer jüngeren Zeitschrift wie „Vice" zumindest eine Möglichkeit, gegen den Dogmatismus der Kulturkritik andere Prinzipien zu setzen.
Wer „ich" sagt, der leugnet wenigstens nicht rhetorisch, dass es ein eigener Eindruck ist. Wer „ich" sagt, der drückt sich um die dogmatische Setzung, so sei es doch allgemein. Das ist eine Überwindung der herrschaftlichen Gesten, mit denen die Säulenheiligen der Zeitdiagnostik Thesen zu scheinbar unbestreitbaren Wahrheiten aufbauschen.
Schlussendlich geht es in einer solch grundsätzlichen Frage darum, Vertrauensvorschüsse zu geben. Man muss wohl der Leserin und dem Leser vertrauen und genau dadurch ergibt sich auch eine aufgeräumte Form der Debatte. Man traut der Lese-Fähigkeit, die Perspektive als Perspektive zu sehen. Man muss daran glauben, dass Leserin oder Leser Widersprüche und Ungereimtheiten erkennen. Dass sie dem Text zu misstrauen verstehen.
erschienen in der Frankfurter Rundschau, 7.9.2016.