Minenarbeiter, Spieler und Alkoholiker - das sollte man sein, um in Broken Hill bestehen zu können, sagt Kevin White, der die Stadt im australischen Bundesstaat New South Wales wie seine Westentasche kennt. White ist hier aufgewachsen und hat schon früh Schulheft und Stift gegen Helm und Hammer eingetauscht und angefangen, in Broken Hills Bergwerken Silber, Zink und Blei zu schürfen. Nahezu sein halbes Leben. Jetzt ist White über 60, und sein Helm hat schon Staub angesetzt. Aber die Erinnerungen an die Zeit unter Tage sind wach, und seine Augen glänzen, wenn er davon erzählt.
Ähnlich ist es bei Richard Murphy. Jeder, der diese Stadt wirklich kennen lernen möchte, muss sie von unten sehen, sagt er. Murphy arbeitete bis in die Neunziger in den Bergwerken der sieben Kilometer langen, Bumerang-förmigen Erzmine. Ihr Zentrum ist "The Hill", ein Hügel, der aus der flachen Steppe des Umlandes hervorsticht. Nach ihm ist Broken Hill benannt. Heute führt Murphy Touristen durch inzwischen stillgelegte Schächte. In 130 Meter Tiefe erzählt er im Schein der elektrischen Stirnlampen von den Strapazen, dem er und seine Kollegen damals ausgesetzt waren: der Hitze, der Enge und dem Lärm.
"Unter diesen Umständen war dein Kamerad das wichtigste, was du hattest. Der hielt dich bei Laune und passte auf, dass du deinen Keil nicht in den falschen Fels rammst und darunter begraben wirst". Aber Beistand kam auch von anderer Seite. "In den Stollen hausten die Ratten, und wenn die plötzlich in die eine Richtung rannten, bist du mitgelaufen. Die Viecher wussten, wenn Gefahr lauerte."
Verheiratete Frauen mussten Job aufgeben
Trotz dieser tierischen Unterstützung haben Broken Hills Minen seit ihrem Fund durch den Stuttgarter Charles Rasp vor rund 120 Jahren rund 800 Leben gefordert. Viele der Opfer erlitten Lungenkrankheiten und Herzinfarkte oder wurden in einstürzenden Schächten begraben. Diese traurige Statistik war Ursache für die frühe Gründung von Gewerkschaften. Jene forderten bessere Sicherheitsbedingungen und Bezahlung sowie kürzere Arbeitszeiten. Streiks waren ihre Druckmittel. Einer der Proteste begann im Jahre 1919 und dauerte 18 Monate. Darauf reduzierten die Bergbaufirmen die Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche.
Mit wachsendem Einfluss fingen die "Unions" allerdings auch an, die Preise von Basisgütern wie Milch, Brot und Bier zu kontrollieren. Manche ihrer Regeln galten auch für den Teil der Bevölkerung, der nie unter Tage arbeitete: die Frauen. Heirateten sie einen Bergarbeiter, waren Frauen verpflichtet, ihre Anstellung aufzugeben. So sollte sichergestellt sein, dass sie sich um Kinder und Küche kümmerten und den Arbeitsplatz ihren ledigen Geschlechtsgenossinnen überließen.
Zur Blütezeit lebten mehr als 6500 Kumpels in "Silver City" und stießen nach Feierabend in den zahlreichen Pubs auf die Kameradschaft an. Sie alle spielten "Two Up", ein illegales Glückspiel mit zwei Münzen. Treffpunkt war das Hinterzimmer eines schmierigen Cafés in der Crystal Lane. Egal ob Kopf oder Zahl fiel, oft wechselten dabei große Summen den Besitzer.
Wenn man heute an den kleinen, einstöckigen Läden aus Holz und Eisen sowie den prunkvolleren, zweistöckigen Gebäuden vorbeispaziert, meint man immer noch ein Stück dieser Hochzeit wahrzunehmen. Auch die Straßennamen wie Bromide-, Sulphide- und Oxide-Street erinnern an den Ursprung von Broken Hill. Sogar die Uhren laufen weiterhin im Rhythmus mit denen in Adelaide, dem in der 120-jährigen Stadtgeschichte wichtigsten Handelspartner. Damit ticken sie eine halbe Stunde hinter der offiziellen Zeit des Bundesstaates New South Wales her.
Der einzige "Mineral Artist" der Welt
Aber der Wandel der Zeit hat sich auch im Ruhrgebiet Australiens bemerkbar gemacht. Beschwipste Bergmänner mit schmutzigen Gesichtern und Helm unterm Arm laufen einem heute selten über den Weg, und Whites Theorie vom typischen Broken-Hill-Mann als Alkoholiker, Spieler und Minenarbeiter scheint heute veraltet. Nur noch eine einzige Zeche ist derzeit aktiv, und die Zahl sowie das Ansehen der Kumpels sind stark gesunken. Laut White und Murphy gibt es schon seit Jahren nur noch rund 500 sogenannte Hollywood Miners.
Die Werke seien weitgehend automatisiert und hätten fast so viele Ampeln wie Beschäftigte. Es bräuchte nur noch "Schauspieler", um die hocheffizienten Maschinen zu bedienen. Aber tatsächlich wünscht sich keiner die alten, harten Zeiten zurück. Mit Ausnahme vielleicht der Pub-Besitzer. Viele von ihnen waren in den letzten Jahrzehnten gezwungen, den Zapfhahn abzudrehen. Die Bevölkerungszahl hat sich seit Broken Hills Bergbauboom fast halbiert und liegt heute bei 21.000.
Doch Broken Hill ist kein "Ghost Town", so wie andere Orte Australiens, deren Leben mit dem Niedergang des Bergbaus erloschen ist. Die Stadt erfährt ein Wiederaufleben anderer Art. Auch wenn Kevin Whites Worte mit Nostalgie gefärbt sind, repräsentiert er einen Teil des "neuen" Broken Hill. Der ehemalige Bergarbeiter ist heute Künstler. Genau genommen der einzige "Mineral Artist" der Stadt und vielleicht sogar der Welt, sagt er. Seine Farben sind Broken Hills bunte Mineralien. White bricht Gesteinsbrocken, zermahlte sie zu Kiesel und Pulver und trägt sie dann auf Leinwände auf. Kunstkenner mögen das Ergebnis als Kitsch abtun. Zu sehr ähneln die naturalistischen Bilder von Broken Hills Straßen, Pubs und Bergwerken zusammengeklebten Puzzles.
Doch auch kritische Ästheten werden in Broken Hill nicht enttäuscht. Das garantiert die Vielzahl der Kunstgalerien. Rund 30 haben in der näheren Vergangenheit in Broken Hill ihre Türen geöffnet und noch weitere in der kargen Steppe des Umlandes. Unter diesen ist die Sammlung eines der bedeutendsten und kontroversesten australischen Künstlers, Pro Hart. In Broken Hill geboren, hat auch er einst als Bergmann gearbeitet, und der Einfluss der "Unterwelt" in seiner Kunst ist unverkennbar. Viele seiner Öl- und Aquarellbilder sind teils dunkel und schattig. Sie zeigen Bergarbeiter und typische Szenen des Outbacks, dem australischen Hinterland. Zu seinen Motiven gehören aber auch Insekten wie Serien von bedrohlich großen Libellen. Pro Hart ist außerdem Mitbegründer von Broken Hills erfolgreicher Kunstschule "Brushmen of the Bush", die dazu beitrug, dass sich mit dem Fortgehen vieler Minenarbeitern gleichsam ein Zustrom von Künstlern vollzog.
Skulpturenpark vor der Stadt
Inzwischen leben in Broken Hill über 50 Berufskünstler und Dutzende von "Hobbyartists", die sich ihre Inspiration nicht nur unter Tage, sondern auch "über Tage", in der Einöde der Umgebung holen. Die umliegende Wüste liefert den klaren Kontrast zwischen tiefroter Erde und stahlblauen Himmel. Hier finden Kreative die Weite, die Metropolen wie Sydney und Melbourne nicht bieten. Das muss sich auch der Stadtrat gedacht haben, als er 1993 ein Dutzend Bildhauer aus aller Welt dazu einlud, auf einem Hügel vor den Toren Broken Hills einen Skulpturenpark zu schaffen. Über einen Zeitraum von zwei Monaten hat jeder der zwölf hier mit traditionellen Werkzeugen des Bergbaus Plastiken in Sandsteinblöcke gemeißelt. Heraus kamen die "Living Desert Sculptures", der wohl beste Beweis, dass Broken Hill sich als florierendes Kunstzentrum hervortut, ohne den Kontakt zu seiner ruhmvollen, gleichsam harschen Vergangenheit zu verlieren.
Auch Hollywood und die heimische Filmbranche sind auf Broken Hill und Umgebung aufmerksam geworden. Mel Gibson rast als Endzeitheld in "Mad Max II" mit einem schwarzen Rennwagen durch die umliegende Steppe. John Goodman und Sam Neill durchkreuzen die Landschaft in dem Mafia-Film "Dirty Deeds - Dreckige Geschäfte". In dem Streifen "Priscilla, die Königin der Wüste" lenkt ein Transvestiten-Trio einen klapprigen Bus durch die staubige Gegend. Schauplatz für diese australische Produktion waren auch die exzentrisch bemalten Zimmer des Palace Hotels in der Argent Street. Das Foyer des Gebäudes aus der Gründerzeit schmückt unter anderem eine Kopie von Botticellis "Geburt der Venus".
Besucher von Broken Hill merken also schnell: alte Kumpels, Künstler, Transvestiten und Endzeithelden - in dieser Outback-Stadt muss man immer auf eine ungewöhnliche Begegnung gefasst sein. Hier ist alles möglich.