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Das Pingpong der Wissenschaften

Die Coronakrise hat den Naturwissenschaften eine neue Bühne gegeben. Aber zur Pandemiebekämpfung braucht es auch die Geisteswissenschaften

TEXT: GREGOR SCHWEHR, MONA SAIDI vom 01.12.2021


Im Zuge der Corona-Pandemie haben die Naturwissenschaften sich selbst übertroffen. Innerhalb von Monaten wurden Daten erhoben und analysiert, um das Unmögliche zu schaffen: Einen Impfstoff auf den Markt zu bringen und der Pandemie ein Ende zu setzen. Und jetzt? Die Infektionszahlen gehen durch die Decke und der Gesundheitssektor ist am Limit.

Aber langsam. Wie noch nie zuvor blickt die Gesellschaft gebannt auf Lösungsansätze aus den Naturwissenschaften. Eindämmungsstrategien und Impfstoffe sollen den Ausweg aus einer schier endlos scheinenden Situation weisen. Forscher*innen sind in den Augen der Bevölkerung zu kühlen Analyst*innen geworden, die in einer politischen Welt von Fake-News und parteipolitischem Kalkül nüchtern Zahlen, Daten und Fakten wiedergeben.

Es ist keine Frage der Fakten mehr

Der öffentliche Diskurs während der Pandemie, der oft im Netz stattfindet, hat viele selbsternannte Virolog*innen und Epidemiolog*innen hervorgebracht. Auch denen müssen die Naturwissenschaften jetzt Rede und Antwort stehen. "Plötzlich findet sich die Naturwissenschaft als eine Stimme unter mehreren wieder und findet auch nicht wirklich Gehör", sagt Matthias Flatscher vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

Sobald Naturwissenschaften den Bereich des Öffentlichen betreten und damit ihr angestammtes Terrain verlassen, müssen sie ihre Erkenntnisse ethischen Reflexionen unterziehen, wie zum Beispiel in der Frage der Impfstoffverteilung oder der Impfpflicht. Die Reflexion über die ethischen, rechtlichen wie auch sozialen Implikationen können nur die Geisteswissenschaften leisten. Ein Beispiel dafür sind die traditionellen Rollenmuster, die während des Lockdowns wieder aufgetreten sind. Der aufgrund von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verhängte Lockdown hat die Problematik der Care-Arbeit oder der häuslichen Gewalt verstärkt. Auch wenn die Naturwissenschaften eine Ausgangsbeschränkung als das Gebot der Stunde identifizieren, können sie doch keine Aussagen über die damit einhergehenden sozialen Folgen treffen. Die Probleme um traditionelle Rollenverhältnisse oder die Aufteilung von Care-Arbeit lassen sich nicht über die naturwissenschaftliche Methode erfassen, sondern nur über geisteswissenschaftliche.

Die Pleite der Geisteswissenschaften Während die Naturwissenschaften einen Höhenflug zu haben scheinen, wirkt der Wert der Geisteswissenschaften viel unklarer. Woran liegt das? Auch im universitären Kontext sind es die Naturwissenschaften, die den Takt vorgeben. "Naturwissenschaftliche Metriken, wie die Zahl der Publikationen, wurden ganz stark in die Geisteswissenschaften importiert, und dem wurde eigentlich wenig entgegengehalten. Im Gegenteil - sehr viele sind auf diesen Zug aufgesprungen, ohne diese neuen Parameter kritisch zu hinterfragen", sagt Flatscher.

Im geisteswissenschaftlichen Bereich greift, laut Flatscher, eine naturwissenschaftliche Kultur der Messbarkeit und Quantifizierbarkeit um sich, in welche sich geisteswissenschaftliche Forschung nur schwer einfügen kann. Anstatt ihre eigenen Maßstäbe anzulegen, droht das charakteristisch geisteswissenschaftliche Potenzial verloren zu gehen.

Dieses sieht Flatscher im Rückgriff auf kontingente Geschichte, das Erarbeiten von Alternativen und die Pflege des Imaginären. "Es wird klar, dass Geschichte immer auch anders hätte verlaufen können. Geschichte ist daher immer auch eine Machtgeschichte, in der sich bestimmte Aspekte durchgesetzt haben und andere zurückgetreten sind. Dadurch gibt es in den Geisteswissenschaften ein viel stärkeres Bewusstsein für die Veränderbarkeit der Gegenwart, als das zum Beispiel in den Naturwissenschaften der Fall ist", erklärt Politikwissenschaftler Flatscher.

Doch gerade im Zuge der Corona-Pandemie zeigt sich, dass die beiden Disziplinen aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig ergänzen. So wie Geisteswissenschaften keine Impfstoffe entwickeln können, so können Naturwissenschaften nichts über die ethischen und politischen Implikationen einer Impfpflicht aussagen oder gesellschaftliche Alternativen zur Verhütung künftiger Pandemien liefern. Das Zusammenspiel dieser beiden Wissenschaften hat das Potenzial, zentrale Fragen unserer Zeit einer Lösung näherzubringen.


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