Der Karnevalsprinz, der Pestdoktor, die Gothik-Braut: Sie alle kommen zur Sprechstunde des Erlkönigs. Der Designer aus Gelsenkirchen ist seit 30 Jahren im Geschäft – und populär wie nie.
von Mirjam Ratmann
Die Bleistiftspitze läuft über das weiße Papier, formt graue Linien, die sich wie ein Spinnennetz miteinander verweben. Um die grauen Linien hervorzuheben, zieht ein schwarzer Kuli die Bleistiftnetze anschließend nach. Nun die Farbe: Königsblau. Damit füllt der Erlkönig die freien Flächen auf weißem Grund. Nach einigen Minuten dreht er das Blatt. "Das ist mein Vorschlag für dich", sagt er, den Blick auf die 15-Jährige Nele gerichtet. "Ist ok für mich", sagt diese und lächelt. Der Erlkönig hat eine zufriedene Kundin mehr.
Wer eine Audience beim Erlkönig erhalten will, muss nach Düsseldorf-Bilk fahren. Zwischen Weinflaschen und hochgestapelten Papierkartons, hinter einem rot-samtigen Vorhang, empfängt der Erlkönig seine Kundinnen und Kunden in der "Unlicht Szene Boutique". Daniel Brandt, so heißt der Erlkönig eigentlich, kommt aus Gelsenkirchen. Seit 30 Jahren arbeitet der 54-Jährige als Mode-Designer. Mit seinen langen grau-gewellten Haaren, Nickelbrille und langen Fingernägeln erinnert er an den Zauberlehrer Albus Dumbledore aus "Harry Potter". Einzig seine schwarze Kleidung signalisiert, dass Brandt Anhänger der Gothic-Szene ist. Nachdem er seinen Laden in Gelsenkirchen 2020 schließen musste, fing er an, seine Kundinnen und Kunden im "Unlicht" zu empfangen. Ob Mittelaltergewänder, Fantasy-Kleidung, Gothik-Mode, Hochzeitskleider oder Fetisch-Klamotten – sein Repertoire ist weit gefächert. Auch Karnevalsvereine fragen seine Dienste an – so wie heute.
Der Aktivenkreis Holthauser Rosenmontagszug e.V. aus Hattingen braucht Kostüme für die kommende Karnevalssaison. Zunächst ist die Jugendprinzessin Luisa dran. Brandt zieht ein gelbes Maßband aus seiner rot-braunen Rewe-Papiertüte, seine Faber-Castell-Buntstifte-Box liegt vor ihm auf dem Tisch. "Stell dich mal aufrecht hin und dann tief einatmen", weist er die 13-Jährige an und misst ihren Brustumfang. "Jetzt einmal Schwarzenegger machen, den Arm hochnehmen und beugen." Gelächter des sechsköpfigen Karnevalensembles. Die Luft ist stickig, einigen steht der Schweiß auf der Stirn, anderen kleben die Oberschenkel am Stuhl. Im Hintergrund summt der PC-Server. Brandt hat alle Maße genommen, notiert sie neben der bereits angefertigten Zeichnung des Prinzessinenkostüms. "Noch eine Frage an das Moralkomittee: Wie kurz soll der Rock sein?" Wieder Gelächter.
Dass sich Brandt "Erlkönig" nennt, hat mit dem gleichnamigen Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe zu tun. In dieser düsteren Ballade erscheint einem Jungen der Erlkönig, ein scheinbar böser Geist, der ihn schließlich zu sich holt, der Junge stirbt. Für Brandt ist es das "Ideal der schwarzen Romantik" und somit passend, um die Gothik-Szene anzusprechen. Außerdem sei die Vertonung der Ballade durch Franz Schubert das Lieblingslied von Brandts damaliger Freundin gewesen. Ohne die wäre er nicht zum Erlkönig geworden.
Anfang der 1990er Jahre, Brandt studierte Deutsch, Philosophie und Geschichte auf Lehramt, arbeitete Brandts Freundin als Schneiderin. Als ihre Schneiderei von Karl-Lagerfeld-Mode auf Umstandsmode umstellte, fand der damals 23-jährige Brandt sie heulend Zu Hause vor und entschied: "Ich kaufe ihr eine Schneiderei". Mit einer Kleiderstange voll mit selbstentworfenen Klamotten und einer Nähmaschine ausgestattet, zogen die beiden im Ruhrgebiet von Club zu Club – und stießen auf willige Kundinnen und Kunden. Aus der urspünglichen Idee, seiner Freundin nur ein Jahr auszuhelfen, wurde eine 30-jährige Erfolgsgeschichte.
Als Daniel Brandt gerade dabei ist die letzten Kostüme für den Hattinger Karnevalsverein zu designen, klingelt sein Telefon. "Erlkönig, was kann ich für dich tun?", meldet sich Brandt. Der Mann am anderen Ende, ein Fotograf, bittet um einen Termin. Er brauche Fetisch-Kostüme für ein Fotoshooting. Sie einigen sich auf einen Telefontermin. "Man muss sich mit den Menschen ausreichend unterhalten, erst dann weiß man, was sie wollen," sagt Brandt. Oft frage er nach dem Lieblingsfilm, Musik- oder Büchergeschmack, um die Personen kennenzulernen. "Ich gehe nicht danach, was die Leute sagen, was sie wollen. Denn wenn sie das wüssten, wären sie selbst Designer." Für eine Beratung braucht Brandt in der Regel wenige Stunden bis einen Tag, bei manchen könne es aber sein, dass er nicht in einem Tag fertig werde. Seine Rekordberatung hätte hingegen zwölf Sekunden gedauert.
Bereits mit 14 entwarf Brandt seine eigenen Klamotten. Damals, im Kunstunterricht, half er seiner Sitznachbarin bei den Kunsthausaufgaben, sie nähte im Gegenzug seine Designs. Inzwischen ist er so bekannt, auch international, dass er keine Werbung mehr machen muss. Früher schickten Brandt und sein einst zwölfköpfiges Team Kleidung in die USA, Australien, Finnland oder Island. Am häufigsten fragen Menschen historische Kostüme bei ihm an, zum Beispiel für Mittelaltermärkte oder Fantasy-Rollenspiele. Gerade im Winter sind Fetisch-Kostüme beliebt. Es kämen alle zu ihm, vom "Hartz IV Empfänger bis zum Grafen." Wenn es besondere Vorlieben gibt, kann ein Design schon mal 2.500 Euro kosten. Der Karnevalsverein aus Hattingen muss heute 170 bis knapp 300 Euro pro Kostüm hinlegen.
Dass Brandt seinen Laden in Gelsenkirchen 2020 schließen musste, hatte keine wirtschaftlichen Gründe, sondern gesundheitliche. Nach einem Schlaganfall riet ihm sein Arzt kürzer zu treten. Seither designt er nur noch zwei statt zehn Kostüme pro Tag, arbeitet an einem Sachbuch über Kostüme und fokussiert sich auf seine Kunst. Dass er immer noch in seiner Geburtstadt Gelsenkirchen lebt, hat vor allem praktische Gründe. "Mein Arbeitsplatz ist nur 100 Meter von meinem Bett entfernt, das heißt, ich kann zu Fuß zur Arbeit gehen, das ist toll." Einmal im Monat fährt er nach Düsseldorf ins "Unlicht", Termine macht er per Facebook oder Telefon aus.
Für heute ist die Audience beim Erlkönig beendet. Die Hattinger Karnevalstruppe muss sich noch bis Ende Oktober gedulden, dann sollen die Kostüme fertig sein. "Bis dahin wünsche ich euch alles Jute", sagt Brandt. Er tue das, was er macht, um Menschen glücklich zu machen, aber auch, um etwas selbst erfundenes zu hinterlassen. "Wäre ich Lehrer geworden, würde ich mir den Arsch aufreißen und von Kindern gehasst. Wenn ich den Leuten Klamotten entwerfe, muss ich mir nur halb so viel den Arsch aufreißen und die Leute lieben mich dafür."