Neun Verabredungen in der Woche sind für Luisa normal. Obwohl sie häufig total davon erschöpft ist, sagt sie nicht ab. Warum sind manche Menschen süchtig nach Treffen?
Manchmal, wenn Luisa* ziellos durch die Straßen von Berlin wandert, überkommt es sie. Dann fängt sie an zu weinen und kann so schnell nicht wieder aufhören. Passiert das, hat sie oft eine Woche mit bis zu neun Verabredungen hinter sich: am Dienstag das Treffen mit einer Arbeitskollegin, am Mittwoch das Essen mit einer Freundin, am Donnerstag das Konzert von Julia Jacklin und über das Wochenende mit Freundinnen nach Brandenburg. Manchmal ist sie mit mehreren Personen zur gleichen Zeit verabredet. "Doppelbuchungen" nennt sie das. "Zum Glück sagt eigentlich immer jemand ab - und ich muss es nicht tun."
Luisa, 30 Jahre alt, sagt, sie braucht das: viele Verabredungen, immer Menschen um sich herum. Denn Verabredungen seien für sie eine Möglichkeit, um sich vor ihren, oft negativen, Gedanken abzulenken, die sie befielen, wenn sie alleine sei. "Habe ich mal einen Tag nichts vor, macht mich das unruhig." Sie weiß aber auch, dass ihr dieses Pensum auf Dauer nicht guttut. Manchmal stehe sie wie neben sich oder komme kaum aus dem Bett, sagt sie. An einem Nachmittag im Dezember erzählt sie, wie es so weit kommen konnte und wie sie gerade lernt, Grenzen zu setzen. Eine knappe Stunde hat sie sich freigehalten, dann muss sie weiter.
Im englischsprachigen Raum kursiert schon länger ein Begriff, der beschreiben könnte, was Luisa erlebt: " Social Burn-out". Dass der Begriff in den vergangenen Monaten öfter auftauchte, kann mit Corona zusammenhängen: Nach mehr als zwei Jahren Social Distancing, erschöpfte es viele, plötzlich wieder unter Menschen zu sein. Aber auch vor der Pandemie gab es Menschen, die sich sozial übernahmen, den Begriff "Burn-out" dafür aber nicht in Erwägung zogen. Wer an einen Burn-out denkt, hat oft erschöpfte Manager:innen mit 70-Stunden-Wochen im Kopf, die irgendwann nicht mehr arbeiten können. Eine Denkweise, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fördert, denn sie lässt den Begriff nur in beruflichem Zusammenhang zu.
Eine Erschöpfung kommt von dysfunktionalen Beziehungen - und die gibt es im privaten Umfeld genauso wie im Job. Mirriam Prieß
Das findet die Ärztin, Burnout-Beraterin und Autorin Mirriam Prieß schwierig. "Eine Erschöpfung kommt von dysfunktionalen Beziehungen - und die gibt es im privaten Umfeld genauso wie im Job." Dysfunktionale Beziehung heißt für Prieß: In einer zwischenmenschlichen Beziehung fehlen Gleichberechtigung, Respekt und Augenhöhe. Verbringe man zu viel Zeit mit dieser Personen oder verrichte Tätigkeiten, die einem nicht guttäten, sei die Gefahr groß, sich sozial zu erschöpfen.
Das Problem: Einfach mal nein zu sagen, fällt vielen Betroffenen schwer, weil sie das Gefühl für ihr Maß verloren hätten: "Sie überschreiten regelmäßig eine rote Linie und sagen Ja, obwohl alles in ihnen Nein schreit", sagt Prieß.
Was Erwartungen der Eltern damit zu tun habenLuisa, die als Bildungspädagogin arbeitet, sieht das anders und würde bei sich selbst auch nicht von einem Burn-out sprechen. "Es wird einem immer suggeriert, dass man entweder zu viele oder zu wenige Freund:innen hat - aber wer bestimmt dieses Maß?" Auf die meisten ihrer Verabredungen habe sie Lust. Nur manchmal fühlte sie sich verpflichtet, Ja zu sagen. Vor Kurzem etwa, als eine gute Freundin sie zu einer Feier eingeladen hatte. Luisa schrieb:
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"Mir ist heute nicht nach vielen Menschen." "Es wird nur eine kleine Runde", antwortete die Freundin. Luisa habe daraus gelesen, dass ihre Freundin enttäuscht sein würde, sollte sie nicht komme. Also schleppte sie sich auf die Party, die dann doch größer war. "In solchen Momenten bin ich von mir selbst genervt, weil ich spüre, dass ich keine Kraft habe, aber nicht auf mich höre", sagt sie.
Gleichzeitig weiß sie, dass sie schon Fortschritte gemacht hat: Früher wäre sie noch länger geblieben oder hätte es für sich behalten, dass sie sich nicht nach feiern fühle, sagt sie. Luisas Problem: Sie hat Angst davor, von ihren Freund:innen verlassen zu werden, wenn sie nicht ständig da ist. "Ich ziehe meinen Selbstwert sehr aus meinen Freund:innenschaften", sagt sie.
Das hält Mirriam Prieß für gefährlich: "In dem Moment, in dem ich meinen Selbstwert nicht kenne und es nicht schaffe, mich selbst als wertvoll zu empfinden - unabhängig von sozialen Kontakten oder einem tollen Job - laufe ich Gefahr, meine gesamte Identität davon abhängig zu machen." Falle dann etwas weg, wären Betroffene häufig verloren, da sie nie gelernt hätten, sich selbst wertzuschätzen.
Doch warum erkennen manche Menschen ihren Selbstwert aus sich heraus und andere brauchen ein Gegenüber dazu? Mirriam Prieß glaubt, dass viele Betroffene keine bedingungslose Liebe im Elternhaus erfahren hätten. Stattdessen hätten sie verinnerlicht, dass ihr Wert als Person an eine Bedingung geknüpft sei. "Die Betroffenen haben zum Beispiel gelernt: Nur wenn ich etwas leiste, werde ich geliebt", sagt Prieß.
Da Luisa schon als Kind gute Noten bekam, habe auch sie immer die Erwartung der Eltern gespürt, weiterhin gute Leistungen in der Schule zu bringen. "Ich hatte schon früh Angst, dem nicht gerecht werden zu können. Das hat mich sehr unter Druck gesetzt." Bei ihr zu Hause sei es aber allgemein nicht einfach gewesen: "Wir waren eine sehr dysfunktionale Familie", sagt sie. Und meint damit auch die Trennung ihrer Eltern, als sie 14 war. Von da an lebten sie und ihre sechs Jahre jüngere Schwester abwechselnd bei Vater und Mutter. Zu ihrer Mutter, die schon länger mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, hat Luisa heute keinen Kontakt mehr. "Sie war eine tickende Zeitbombe - ich wusste nie, ob sie mich liebt oder hasst."
Als ältestes Kind sah es Luisa als ihre Aufgabe, die Harmonie in der Familie zu wahren, vor allem für ihre jüngere Schwester. Ihr Weg, mit der Situation damals umzugehen, war die Flucht zu ihren Freund:innen. "Sie waren immer ein sicherer Ort für mich." Mit ihnen versuchte sie zwar, über ihre Sorgen zu sprechen, doch so richtig benennen, was genau sie belastete, konnte sie damals nicht. Auch weil sie in ihrem Elternhaus nie gelernt habe, über ihre Gefühle zu sprechen. Stattdessen war Luisa, gerade in der Zeit, in der die Stimmung im Elternhaus besonders schlecht war, oft so gereizt, dass ihr Freund:innen irgendwann nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten. Deshalb hat sie bis heute Angst, ihre Freund:innen könnten sich von ihr abwenden, wenn sie nein sagt.
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