Launisch, reizbar, kein Bock: Das ist die Pubertät, dachten Moritz' Eltern. Dass hinter seinem Verhalten eine ernsthafte Erkrankung steckt, fiel ihnen zu lange nicht auf.
Ein weiß-schwarz-gescheckter Husky mit spitzen Ohren. Daneben sitzt ein Junge mit zerrissener Jeans, dem die struppigen Haare über die Augen fallen. Sein Mund ist zu einem schiefen Lächeln verzogen. Der Junge hat Pflaster auf den Wangen, sein Gesicht und die Schulter zieren teils blutige Narben. Als Moritz* dieses Bild gemalt hat, war er 14 Jahre alt. Zwei Jahre lang hatte er da schon eine Schwere mit sich herumgetragen, die er sich nicht erklären konnte. Eine Schwere, die nicht über Nacht kam, sondern sich schleichend breitmachte, bis sie nicht mehr gehen wollte. Moritz verbrachte schon immer viel Zeit mit sich selbst, zeichnete Comics inspiriert von Animeserien oder Computerspielen, oder vergrub sich mit einem Buch in seinem Bett. Obwohl er in der Schule wenige Freund:innen hatte, ging er gern in den Unterricht, schrieb hauptsächlich Einsen. Doch mit 12 änderte sich etwas.
Hatte er bis dahin immer Freude am Lesen und Zeichnen gefunden, schaffte er es nun kaum noch aus dem Bett, geschweige denn den Stift aufs Blatt zu setzen, um eine Skizze anzufertigen. Ihm habe nichts mehr Spaß gemacht, die Motivation sei weg gewesen. So erzählt es der 17-Jährige heute, seine kurzen schwarzen Haare mit pinken Strähnen fallen ihm über die dunkel-umrandete Brille. "Irgendwann konnte ich mich gar nicht mehr aufraffen, überhaupt ein Buch in die Hand zu nehmen." Trotzdem schleppte sich Moritz noch zur Schule. Doch bald konnte er dem Unterricht kaum noch folgen, seine Noten wurden schlechter. Der Leistungsabfall fiel niemandem auf, da er weiterhin passable Noten bekam. Nach der Schule lag er fast nur noch im Bett, habe maximal noch Musik gehört.
In Moritz' , die damals in einer Vierzimmerwohnung in Leipzig lebte, fiel Moritz erste depressive Phase nicht auf. Moritz sei schon immer ein "Stubenhocker" gewesen, sagt seine Mutter Sybille Moser*. "Für uns haben die Antriebslosigkeit und Übellaunigkeit nach normalen pubertären Verstimmungen ausgesehen", sagt Thomas Moser*, Moritz' Vater. Schließlich hätten sie diese Phase schon mit ihren anderen Kindern durchgemacht.
Du denkst nicht sofort an eine ernsthafte Erkrankung. Man denkt sich eher: Okay, das ist diese Phase, in der sich die Kinder halt abkapseln und man sie weniger zu sehen bekommt. Sybille Moser
Die Eltern arbeiteten im Schichtdienst, sie in der Krankenpflege, er für eine Inventurfirma. Und sie hatten mit ihren insgesamt sechs Kindern genug damit zu tun, die Familie zusammenzuhalten - so nahm es Moritz zumindest wahr. Zwischen den Eltern hätte es in dieser Zeit viel Streit gegeben, sagt er, zwischenzeitlich lebten sie getrennt. Die Kinder pendelten zwischen den Wohnungen des Vaters und der Mutter. Die Mutter kämpfte selbst mit Depressionen, äußerte Suizidgedanken. In dieser Zeit schlief Moritz anderthalb Jahre bei seiner Mutter im Bett, um sicherzugehen, dass sie sich nichts antut. Viel oder guten Schlaf bekam er selten. "Wir hatten keine stabilen Verhältnisse - das hat sicherlich zu meinen Ängsten beigetragen."
Das Coming-outÄngste und Sorgen, die er niemandem gegenüber äußerte. Stattdessen machte er alles mit sich selbst aus. In der Schule mobbten ihn seine Mitschüler:innen für seinen alternativen Klamottenstil, ein Mix aus Emo, Grunge, Gothic und Punk, machten sich über seine Hobbys lustig, wählten ihn stets als Letztes bei Gruppenarbeiten. Die Lehrer:innen reagierten weder darauf noch auf seinen Leistungsabfall. Moritz vermutet, dass die Lehrer:innen, ebenso wie seine Eltern, seine schlechte Phase auf die schoben.
Klar hätte man manchmal Mühe gehabt, Moritz zum gemeinsamen Essen zu bewegen oder ihn überhaupt zu Gesicht zu bekommen, sagt Sybille Moser. "Aber da denkst du ja nicht sofort an eine ernsthafte Erkrankung. Man denkt sich eher: Okay, das ist diese Phase, in der sich die Kinder halt abkapseln und man sie weniger zu sehen bekommt."
Dass mehr in Moritz vorging, sahen weder die Lehrer:innen noch seine Eltern. Ein Jahr lang ging das so. Dann vertraute er sich seinen Eltern an, erzählte von seiner Antriebslosigkeit und den Konzentrationsschwierigkeiten. Und er outete sich als trans. Für Sybille und Thomas Moser erklärte das damals einiges. "Als ich das hörte, habe ich gedacht: Wenn er die Tatsache, dass er sich im falschen Körper fühlt, schon so lange in sich hineinfrisst, ist es ja kein Wunder, wie er sich verhält", sagt Thomas Moser. An eine Depression hätte er aber nicht geglaubt. Nach dem Outing seines Sohnes habe er eher das Gefühl gehabt, Moritz sei eine Last von den Schultern gefallen.
Sybille Moser sagt, sie habe auch nach dem Outing versucht mit Moritz im Gespräch zu bleiben, hätte nachgefragt, woran es liege, wenn Moritz mal wieder launisch nach Hause kam. In dieser Zeit gerieten Mutter und Sohn öfter aneinander. Wenn Moritz erneut einen Teller mit Essensresten über Tage in seinem Zimmer stehen gelassen hatte oder sich die Klamottenberge türmten, war Streit vorprogrammiert. "Sie regt sich dann auf und ich bin angepisst - da wird es schnell mal laut", sagt Moritz. In richtig schlechten Phasen könnte das auch heute noch mehrmals am Tag passieren.
Nach seinem Outing habe es zudem viele Diskussionen über sein Transsein gegeben, erzählt Moritz. Seine Eltern hätten sich lange geweigert, Moritz bei seinem neuen Namen zu nennen. "Meine Mutter hat regelmäßig zu mir gesagt: Das ist nur eine Phase, das geht vorbei." Dass seine Depression währenddessen nur stärker wurde, nahmen die Eltern nicht wahr. Moritz glaubt: "Die Tatsache, dass ich mich als trans geoutet hatte, war für meine Eltern so dramatisch, dass es alles andere überlagert hat." Die launischen Verstimmungen schrieben Sybille und Thomas Moser weiterhin der Pubertät zu.
Rétablir l'original