Am 28. Dezember 2011 schloss das Nationalmuseum (Zemaljski Muzej) in Sarajevo seine Pforten für die Öffentlichkeit. Seit Monaten war das Budget aufgebraucht, Gehälter wurden nicht ausbezahlt, die sachgemäße Lagerung der Exponate konnte nicht länger gewährleistet werden. Das Landesmuseum wurde als erste wissenschaftliche Institution des Landes zur Zeit Österreich-Ungarns im Jahre 1888 gegründet. daStandard sprach mit Salmedin Mesihović, einem Archäologe und Historiker an der Universität in Sarajevo. Der kritische Wissenschaftler prangert das Desinteresse der bosnischen Politik am Erhalt des wichtigsten Kulturgutes an und wünscht sich Hilfe aus Österreich. daStandard.at: Zuerst wurde die Nationalgalerie Bosnien-Herzegowina geschlossen und nun das Nationalmuseum. Was tut die Politik, um das Kulturgut von Bosnien-Herzegowina zu schützen?
Mesihović: In unserem derzeitigen politischen System herrscht seine Kombination des ethnischen parteipolitisch-lokalen Denkens und Korruption. Vor diesem Hintergrund war es zu erwarten, dass die nationalen Politiker kein Interesse daran haben, die kulturellen, historischen und künstlerischen Traditionalen zu erhalten. Ihre Logik ist sehr einfach und oberflächlich, und basiert auf persönlichem Gewinn. Natürlich muss ich darauf hinweisen, dass es Individuen in den politischen Strukturen gibt, die versuchen, zu helfen, soweit es in ihrer Macht steht. Hier ist leider die Rede von Personen, die nicht der Spitze politischer Parteien stehen und ethno-religiöser Politik angehören. Aber es gibt auch viele Politiker, die unser kulturelles und historisches Erbe zerstört sehen wollen. Interessant ist allerdings, dass sowohl Beamte als auch gewöhnliche Angestellte der verschiedenen protektionistischen Institutionen wie OHR, OSZE, EU-Büros, Botschafter der fünf Staaten, die im Rat für Friedenseinsätze in Bosnien-Herzegowina tätig sind, absolut keine Anteilnahme oder Interesse zeigen.
daStandard.at: Wie konnte es zu dieser Misere kommen?
Mesihović: Das Hauptproblem des Landes- und des Historischem Museums liegt in der Tatsache, dass sie zu einer Gruppe von "Kultur- und Bildungsinstitutionen" gehören, die im Besitz der ehemaligen jugoslawischen Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina waren. Als Dayton den Status und die Entwicklung von Bosnien und Herzegowina neu definierte hat und die Republik praktisch abgeschafft wurde, blieben diese sieben Institutionen ohne Eigentümer, und über Nacht war ihr Statuts undefiniert.
daStandard.at: Was wird nach der Schließung des Museums passieren? Was ändert sich für die Stadt Sarajevo?
Mesihović: Wir hoffen sehr, dass das Nationalmuseum nicht zugrunde geht. Falls es aber passiert, wird die Situation apokalyptisch aussehen. Im Nationalmuseum wird der größte Schatz auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens gelagert, der auf mehrere Milliarden Euro geschätzt wird. Das Versicherungssystem würde zusammenbrechen und alle Exponate würden gestohlen und auf der ganzen Welt verkauft. Andererseits würde dieses Ereignis aus kultureller Hinsicht dieses Land in eine Lage versetzen, von der es sich niemals erholen würde. Bosnien- Herzegowina hat ohnedies in den letzten 22 Jahren eine kulturelle Destruktion erlebt. Die Zerstörung dieser Institutionen wäre der letzte Schlag für die Kultur dieses Landes.
daStandard.at: Stehen hinter der Schließung der kulturellen Institutionen in Bosnien-Herzegowina politische Absichten?
Ich denke, das größte Problem ist, dass absolut niemand wirklich einen Plan hat, was mit diesen Institutionen wie Nationalmuseum und Historisches Museum geschehen soll. Einfach ausgedrückt, unsere Politiker haben mehr Interesse an einer Mitgliedschaft in den Verwaltungsräten der Telekom und des Stromanbieters, als an der Statuslösung und am Schaffen eines nachhaltigen Finanzierungssystems für kulturelle Institutionen. Sie verstehen einfach nicht, dass sich der größte abgelegte Schatz in Bosnien und Herzegowina im Depot des Nationalmuseums befindet, und dass es da mehr Reichtum gibt als im Gewinn der Telekom und des Stromversorgers. Mit anderen Worten gesagt, sie sind einfach kurzsichtig, etwas oberflächlich und sehr rückständig.
daStandard.at: Gab es bezüglich der Schließung Stimmen aus dem Ausland oder aus der Diaspora?
Mesihović: Von offizieller Seite jedenfalls nicht. Meiner Meinung nach wären zum Beispiel die österreichischen Erfahrungen im Bezug auf den Betrieb von kulturellen Einrichtungen äußerst wünschenswert, um um das Problem bezüglich Museumsbetrieb in Bosnien und Herzegowina zu lösen. Der Erfolg des Kunsthistorischen Museums und Naturhistorischen Museum in Wien demonstriert, dass es gute Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft einerseits, und Kultur, Wissenschaft und Bildung andererseits geben kann. . Es wäre nicht schlecht, wenn sich die österreichischen Museen und wissenschaftliche Öffentlichkeit an der Situation in Museen der Stadt Sarajevo interessieren würden und in einer Art Zusammenarbeit und Unterstützung anbieten, im Umgang mit der Aufrechterhaltung der Museen in Sarajevo.
daStandard.at: Was wird nun mit den Exponaten geschehen?
Mesihović: Ich hoffe nur, sie erleben nicht das Schicksal von Kabuls oder Bagdads Museen. Natürlich müssen dann diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die für die Zerstörung unseres historischen, archäologischen und kulturellen Erbes zuständig sind.
daStandard.at: Wird man die Sarajevo-Haggada*, eine der wichtigsten Objekte der bosnischen Geschichte auch in Zukunft besichtigen können? Es gibt Gerüchte, dass schon ein Politiker versucht hätte, sie zu verkaufen.
Mesihović: Es gibt natürlich Menschen, die sie gerne in ihrem Besitz hätten, aber die Haggada ist von größter kultureller Bedeutung für Bosnien- Herzegowina, und der Verkauf ist keine Option, um keinen Preis!
daStandard.at: Wie könnte das Museum gerettet werden?
Mesihović: Im Moment kursieren verschiedene Lösungsvorschläge; etwa die Integration in die Universität von Sarajevo oder eine temporären Finanzierung durch das Budget der Föderation Bosnien und Herzegowina. Momentan ist alles noch offen. (Mirella Sidro, 16. 11. 2011, daStandard.at)