WOLFGANG KRIEGER: Das ist schon überraschend. Vor allem in diesem Ausmaß. Amerikanische Experten gehen inzwischen davon aus, dass der Skandal vom Umfang und der Schwere her vergleichbar mit den Fällen Chelsea Manning und Edward Snowden ist. Bisher ist ja nur ein kleiner Teil des Materials veröffentlicht worden. Aber wenn die Angaben stimmen, ist es ein riesengroßes Ding.
Sieht das Material denn glaubwürdig aus?KRIEGER: Davon gehe ich aus. Was wir aber nicht wissen ist, wo es herkommt und was der ganze Zweck der Übung ist. Steckt Russland hinter dieser Skandal-Produktion, oder ist das ein moralischer Feldzug von Julian Assange? Offen ist auch die Frage nach der Quelle. Aber in den USA gibt es rund 800 000 Leute mit Security-Status. Wie will man die alle überwachen? Die Dienste sind darauf angewiesen, geschickten Hackern mit fragwürdiger Biografie Zugang zu sensiblen Daten zu erlauben.
Ist die CIA nun ihres kompletten digitalen „Werkzeugkastens" beraubt?KRIEGER: Es ist natürlich wahrscheinlich, dass die betroffenen Unternehmen rasch ihre Sicherheitslücken schließen. Die Software-Industrie entwickelt sich aber derart rasant, dass ständig neue Lücken auftauchen. Die CIA wird dementsprechend auch neue Ansatzpunkte entwickeln. Man sieht ja an der NSA-Debatte, dass sich an der Praxis der Geheimdienstarbeit nichts ändert.
Als wie brisant schätzen Sie die nun erfolgten Enthüllungen ein?KRIEGER: Das ist schwer zu sagen. Wir wissen ja nicht, was noch alles kommt. Man kann nur vermuten, dass es ein großes Volumen hat, da Wikileaks anders operiert hat als zuvor, Dokumente bearbeitet und Passagen geschwärzt hat. Offenbar haben sie gehörig Angst vor der US-Justiz.
Zur Person: Kenner von CIA und BNDWolfgang Krieger (69) ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Geschichte der internationalen Beziehungen an der Philipps-Universität Marburg.
clearingWar denn ernsthaft damit zu rechen, dass die USA ihre Geheimdienstaktivitäten auf deutschem Boden einstellen würden?KRIEGER: Nein, das nicht. Das haben sie ja auch nie in Aussicht gestellt. Das waren allenfalls deutsche Phantasien. Allerdings ist schon erstaunlich, in welchem Umfang diese Einrichtung in Frankfurt operiert. Man wusste, dass die CIA sich seit einigen Jahren in der Cyberabwehr betätigt. Dazu sind sie durch die Präsenz der US-Truppen zum Teil auch autorisiert, wobei die Grenzen sehr fließend sind. Aber eigentlich müsste dies aber in Verbindung mit deutschen Diensten geschehen.
Ist es möglich, dass deutsche Dienste nichts von den Aktivitäten ihrer US-Kollegen gewusst haben?KRIEGER: Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder hat die Bundesregierung gar nichts davon gewusst. Oder man hat Teile gewusst und ist erstaunt, wie weit es wirklich gegangen ist. Die dritte Option: Man hat zum Teil mitgearbeitet, aber nicht im vollen Umfang gewusst, woran. Die wahrscheinlichste Option wird gewesen sein, dass man wusste, was die CIA in Frankfurt macht, aber nicht, wie weit das wirklich geht. All das wird nun in parlamentarischen Kontrollgremien zur Sprache gebracht werden.
Weshalb sind Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet für US-Geheimdienste so wichtige Standorte?KRIEGER: Da spielt der große Flughafen eine wichtige Rolle. Von Frankfurt aus kann man überall hin reisen. Zudem ist die Stadt ein Finanz- und Technologiezentrum. Natürlich spielt auch Historie eine wichtige Rolle. Seit Gründung der CIA, Ende der 1940er-Jahre, wurde in Frankfurt und Umgebung sukzessive Infrastruktur vom Militär übernommen. Rammstein ist auch nicht allzu fern. Das ist im Grunde das Drehkreuz für den Nahen Osten. In Deutschland sind die US-Streitkräfte in ganz Europa am stärksten vertreten. Dadurch kann man sehr unauffällig Logistik und Personen transportieren.
Wie kommt es, dass die CIA aus dem US-Generalkonsulat heraus operiert?KRIEGER: Ich kann mich an den Umzug des Amerikahauses vor rund zehn Jahren erinnern. Das war in Nähe der Alten Oper. Im Zuge dieser Schließung ist der Campus auf dem Gelände des Konsulats derart erweitert worden. Ich habe damals gefragt, was da eigentlich passiert. Die Antwort lautet: Das sei ein Logistikzentrum für das State Department. Also wenn in Kairo der Drucker kaputt ist, wird der von Frankfurt aus gewartet. So ähnlich war es auch, nur ging es wohl nicht primär um Drucker. Wenn man das dem State Department zuordnet, ist das besonders praktisch: Diese Leute reisen inkognito oder mit Diplomatenpass. Wie will man da feststellen, ob jemand ein Systemtechniker oder ein Hacker ist?
Wie wird der Skandal in den USA wahrgenommen?KRIEGER: Dort wird man sich nicht so moralisch empören wie bei uns. In den USA wird es vor allem darum gehen, wie das passieren konnte. Ähnlich wie bei der NSA mit Snowden. Was alles kompromittiert ist, wird die nächste zentrale Frage sein. Da wird man sehr auf Schadensbegrenzung bedacht sein. In Deutschland glaube ich schon, dass uns eine politisch-moralisierende Debatte bevorsteht. Nach dem Muster: Warum werden wir wieder angelogen. Ich glaube aber nicht, dass die USA ihre Aktivitäten einstellen werden.
Für wie wahrscheinlich halten Sie die These, dass die nun enttarnten Operationen zu großen Teilen Industriespionage zum Ziel hatten?KRIEGER: Dieser Verdacht wird immer geäußert. Ich bin da aber skeptisch. Ich vermute eher, dass es den USA um Terrorabwehr geht und um damit zusammenhängende Proliferation: Etwa um deutsche Unternehmen, die beispielsweise Pumpen an den Iran liefern. Deutschland hat mit seiner mittelständischen Tradition eine sehr spezielle Stellung in der Welt. Diese kleinen Firmen werden nicht die Möglichkeiten haben, sich gegen solche Attacken zu wehren.
Was treibt die USA an, völlig autonom auf deutschem Boden zu operieren?KRIEGER: Die Amerikaner sagen immer wieder, dass die deutschen Nachrichtendienste für die Stellung des Landes in der Welt zu schwach sind. Sie verweisen immer wieder auf die Rolle der Hamburger Zelle bei den Anschlägen vom 11. September 2001. Die deutsche Spionageabwehr ist tatsächlich nicht sehr stark. Viele Strukturen wurden abgebaut, als die Sowjetunion unterging. Erst jetzt hat die Regierung eine Kehrtwende gemacht und versucht, wieder aufzubauen. Das dauert Jahre, zumal das geeignete Personal sehr rar ist und die freie Wirtschaft weitaus besser bezahlt. Die Russen haben ein ganz ähnliches Problem, aber auch andere Lösungsansätze.
Wie wird Donald Trump, der ja kein Freund der US-Geheimdienste ist, nun reagieren?KRIEGER: Wir können noch gar nicht einschätzen, was seine Geheimdienstpolitik ist. Obama hat erstaunlich schnell ein sehr gutes Verhältnis zu den Diensten aufgebaut. Bei Trumps sprunghafter Persönlichkeit gibt es in den Diensten enorme Widerstände.