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vangardist.com | Kein Enfant, nie terrible - Xavier Dolans "Mommy"

Szene aus "Mommy". Foto: Shayne Laverdière

„Er ist nicht mehr bloß die Zukunft des Kinos, sondern dessen Gegenwart. Sein neuer Film bekam in Cannes zwölfminütigen Applaus, also geben Sie sich Mühe", wird Xavier Dolan bei der Premiere von Mommy im Rahmen des Hamburger Filmfestes angekündigt. Das frankokanadische Wunderkind des Arthousekinos erscheint in schwarzem Sakko zu schwarzem Shirt zu schwarzer Hose, bedankt sich für das große Interesse an seinem Film und wünscht viel Spaß, nun ja, so viel Spaß seine nunmehr fünfte Filmregiearbeit eben bereiten könne. Denn für leichte Kost ist Dolan nicht bekannt.


Dabei ist Mommy sein bisher zugänglichster und womöglich auch bester Film. Im Jahr 2015 wird ein neues Gesetz in Kanada erlassen, dass es Eltern erlaubt, ihre schwer erziehbaren Kinder an den Staat abzugeben, sofern sie selbst finanziell und psychisch nicht mehr in der Lage sind, sich um sie zu kümmern. Diane (Anne Dorval) möchte davon nichts wissen. Seit dem Tod ihres Mannes ist ihr Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) von einem hibbeligen Kind zum gewalttätigen Teenager gereift, der wegen Brandstiftung in der Psychiatrie landete. Trotzdem holt sie ihn zurück, will mit ihm ein neues Leben in einem neuen Viertel aufbauen. Kein leichtes Unterfangen, denn ohne Schulabschluss und mit einem mehr als unflätigen Mundwerk ist auch Diane keine heiß begehrte Kraft auf dem Arbeitsmarkt. Durch Zufall freundet sich das chaotische Duo mit der schüchternen Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) an. Die stotternde, an Burn-out leidende und von ihrer Familie mit konstantem Desinteresse bedachte Lehrerin fühlt sich von der oberflächlichen Unbekümmertheit der beiden wie magisch angezogen. Zu dritt erschaffen sie eine kleine Gegenwelt, im Kontrast zu ihrem tristen Alltag, feiern Küchenparties, unternehmen Ausflüge. Doch Steves unkontrollierbares Verhalten läuft immer wieder aus dem Ruder und stellt die neu gewonnene Harmonie auf eine harte Zerreißprobe.


Komplexe Mutter-Sohn-Geschichten, die kennt man von Dolan schon seit deinem Debüt I Killed My Mother. Aber dank der vielen witzigen Momente und leichtherzigen Szenen schrabt Mommy an der Grenze zur herrlich absurden Tragikomödie. Die Dialoge ufern nie aus, ernste Momente werden durch lichte Szenen gebrochen, und in jeder einzelnen brillieren Dolans Darsteller. Der Film hält dort gekonnt die Waage, wo Arthouse zu sehr im Leid und der Gestörtheit der Charaktere baden würde.


So einfach funktioniert aber das Leben nicht, weshalb sich hier intensive Nahaufnahmen mit lichtdurchfluteten Szenen abwechseln, in denen etwa Steve mit einem Einkaufswagen auf einem Supermarktparkplatz durchdreht, oder Diane in ihrem billigsten Outfit die gierigen Nachbarsblicke auf sich zieht. Die Geschichte ist perfekt austariert, das Spiel der Akteure ohne Makel - die fast zweieinhalb Stunden vergehen wie im Fluge.


Auf zwölf Minuten Applaus bringt es das generell eher zurückhaltende Hamburger Publikum zwar nach der Aufführung des Filmes nicht, aber es honoriert Dolans Leistung mit warmem Jubel und vereinzelten Standing Ovations, als er die Bühne betritt, um sich den Fragen der Gäste zu stellen. Ob er in einer Szene auf Harmony Korines skandalträchtigen „Gummo" anspiele, fragt jemand. Der 25 Jahre alte Regisseur windet sich ein paar Mal, setzt an, rudert zurück, und verrät: „Ich werde andauernd gefragt, ob ich diesen oder jenen Meilenstein gesehen hätte, und sage meistens ‚Ja, na klar', aber das ist eine glatte Lüge. Ich habe ‚Gummo' nie gesehen, nichts von Korine, ach, ich habe so vieles nicht gesehen! Ich kenne höchstens zwei Filme von Godard, und es mag peinlich sein, aber meine Inspiration sind tatsächlich einfache Hollywoodfamilienfilme aus meiner Kindheit. ‚Ein Hund namens Beethoven'! Habt ihr die Anspielung auf ‚Kevin allein zu Haus' bemerkt? Verdammt, einige Szenen habe ich so mit Musik verknüpft, wie es mir ‚Titanic' beigebracht hat! Den habe ich wirklich dutzendfach geschaut." Das Publikum quittiert die Antworten des mit seinen großen Händen immer kräftiger gestikulierenden Kanadiers mit Gelächter und gelegentlichem Szenenapplaus, immer wieder verzieht sich Dolans Gesicht nach sichtbarer Zurückhaltung in ein breites Grinsen. Es wird offenbar, was er in zögerlichen Momenten denkt: Kann ich das jetzt sagen? Sollte ich das jetzt verraten?


„Wieviel von deiner eigenen Biografie, von deiner eigenen Mutter steckt denn in Mommy?", ruft jemand aus einer dunklen Ecke des Kinos nach vorne. „Ich habe genau einen Film über meine Mutter gemacht, und das war mein Regiedebüt I Killed My Mother. Das hat nun wirklich gereicht. Ansonsten ...", und hier hält er wieder inne, und feuert dann fast heraus: „Ich habe aber tatsächlich einige Gemeinsamkeiten mit Steve! Also ich bin nicht gewalttätig, nicht mehr, hoffe ich, na ja, aber ich habe auch diese Ausraster, donnere mein Handy auf den Boden, wenn es nicht will wie ich, sowas eben. Das ist besser geworden, ich habe das Filmemachen als Ventil dafür gefunden, aber es kommt durchaus noch vor." Natürlich spiele aber das Mutterprinzip, als etwas Abstraktes und Ideelles, in allen seinen Werken eine Rolle und so werde es wohl auch in Zukunft bleiben.


Dolan redet sich warm und munter, offenbart, dass die Musik im Film sich bewusst kaum aus Indiesongs zusammensetzt, wie man das erwarten würde, sondern dass etwa „Blue (Da Ba Dee)" von Eiffel 65 oder Oasis' „Wonderwall" ihn in seine Jugend zurückversetzen und das auch mit dem Zuseher passieren soll. „Achtet mal darauf: Die Musik spielt nicht ‚auf' dem Film, sondern ‚in' ihm - die Charaktere entscheiden sich immer für die Lieder, die man hört. Ich möchte, dass man sich in die Zeit und an den Ort zurückversetzt fühlt, als man diese Songs hörte. In der Küchenszene, in der die drei Freunde ausgelassen tanzen, hatte ich erst das obskure Stück ‚Candy Walls' vom Electro-Act Trust eingeplant. Das ist eher mein Musikgeschmack, aber der Celine-Dion-Hit, der da jetzt spielt, passt viel besser zum Leben der Charaktere. Und mal ehrlich: Wir freuen uns doch alle, wenn wir diese Sachen mal wieder hören."


Wahrscheinlich hat das Publikum einen ganz anderen Typen erwartet, ein verkopftes Regiewunderkind, ein Enfant Terrible, mit Sonnenbrille und womöglich schwerer Rhetorik. Auch das kann Dolan, aber mit Mommy hat er bewiesen, dass es selten so einfach ist, den für sich von anderen geschaffenen Schablonen zu entsprechen. Der Balanceakt dazwischen, darin liegt die Stärke - und davon profitiert sein neuer Film.



Text: Michael Schock

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