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Reportage spécial

Fehlstart einer Freundschaft

Badische Zeitung | 19.01.2013    Der Elysée-Vertrag gilt als wichtige Etappe der deutsch-französischen Aussöhnung – doch kaum unterzeichnet, führte er erst einmal zu Argwohn und Enttäuschung.


Mit Wiegelöschern trocknen Mitarbeiter des Elysée-Palasts vorsichtig die Unterschriften von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Kristalllüster spenden Licht, das sich widerspiegelt in hohen Spiegeltüren. Es ist ein Dienstagabend im Saal Murat des Amtsitzes des französischen Präsidenten in Paris, kurz vor 18 Uhr. Der längliche Tisch, an dem der deutsche Kanzler und der französische Staatspräsident sitzen, ist mit Samt bespannt. Als auch Premierminister Georges Pompidou und die beiden Außenminister Gerhard Schröder und Maurice Couve de Murville unterschrieben haben, ergreift de Gaulle bewegt das Wort: „Übervoll ist mein Herz und dankbar mein Gemüt, nachdem ich soeben mit dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland den Vertrag über die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich unterschrieben habe. Niemand auf der Welt kann die überragende Bedeutung dieses Aktes verkennen.“ Es wende sich nicht nur das Blatt einer langen und blutigen Geschichte der Kämpfe und Kriege, „sondern zugleich öffnet sich das Tor zu einer neuen Zukunft für Deutschland, für Frankreich, für Europa und damit für die Welt“.

De Gaulle hält inne, jetzt könnte der deutsche Kanzler etwas sagen – aber ihm scheinen die Worte zu fehlen: „Herr General, Sie haben es so gut gesagt, dass ich dem nichts hinzufügen könnte.“ De Gaulle streckt Adenauer die Arme hin, scheint ihn fast ein wenig an sich heranzuziehen, umarmt ihn zum hingehauchten Bruderkuss. Das scheint Adenauer zu überraschen, und er drückt, fast verlegen, de Gaulle einen richtigen Kuss auf die Wangen, wie der damalige Dolmetscher Hermann Kusterer sich später in Interviews erinnert: „Noch heute sehe ich seine gespitzten Lippen.“

22. Januar 1963. Nur wenige Minuten dauerte dieses völkerverbindende Ereignis im Elysée. Besiegelt ist ein Vertrag gleichen Namens, der für viele eine Sensation ist und der doch gleichzeitig für Argwohn sorgt. Ein Vertrag, den der deutsche Kanzler später gegenüber der New York Times als „seine wichtigste Tat in all den vierzehn Jahren seiner Kanzlerschaft“ bezeichnen wird. Dabei sollte dieser Vertrag zunächst gar kein Vertrag werden.

In letzter Minute

Der Elysée-Vertrag ist schon formal ein Kuriosum unter den Hunderten von Verträgen der Bundesrepublik. Denn ursprünglich hatte Frankreich nur ein Memorandum zur Zusammenarbeit vorgeschlagen, ein risikoloses Protokoll, das nicht von den Parlamenten ratifiziert werden muss. Erst einen Tag vor der Unterzeichnung schwenkten die beiden Staatsmänner auf einen Vertrag um. Wohl auf Adenauers Wunsch hin: Zum einen, weil er verfassungsrechtliche Probleme sah. Zum anderen, weil er sich gegen seine Kritiker durchsetzen wollte. Seine Nachfolger sollten verpflichtet sein, die deutsch-französische Kooperation fortzuführen. Die beiden Staatsmänner bringen ihre Diplomaten jedenfalls in Verlegenheit: Am Vormittag des 22. Januar müssen sie noch schnell um die Ecke des Elyée-Palasts zu einem Laden sausen, um eine für einen Staatsvertrag würdige Ledermappe zu erstehen. Sie bekommen nur eine hellblaue, keine dunkelblaue, wie eigentlich für solche Verträge üblich. Das Bundeswappen fehlt auf diesem Vertrag genauso wie die vorgeschriebene schwarz-rot-goldene Kordel.

Treffen, und zwar regelmäßig

Müsste man einen Satz finden, der den Elysée-Vertrag auf den Punkt bringt, könnte der heißen: Trefft euch regelmäßig zum Gespräch! Es ist ein Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit. Mindestens zweimal jährlich sollen sich die Staats- und Regierungschefs zu Beratungen treffen, heißt es darin, die Außenminister sogar mindestens alle drei Monate. Frankreich und Deutschland verpflichten sich zu Konsultationen in allen wesentlichen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik.

Ihm geht eine kurze gemeinsame Erklärung voraus. Darin ist von der Überzeugung die Rede, „dass die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, dass das Verhältnis der beiden Völker zueinander von Grund auf neu gestaltet“. Vor allem der Jugend komme eine entscheidende Rolle bei der Festigung der deutsch-französischen Freundschaft zu und die Kooperation bedeute einen unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem vereinigten Europa - das Ziel beider Völker. All das klingt eher technokratisch statt konkret und lebendig. „Das Bedeutendste dieses Vertrags ist, dass man sich regelmäßig sieht, auch wenn man nicht jedes Mal etwas gemeinsam entscheidet. Und dass man die Probleme und Zwänge der anderen Seite kennt und sie integriert in die eigene politische Gestaltung“, sagt die Pariser Historikerin und Germanistin Hélène Miard-Delacroix.

Schritte der Annäherung

Nach Jahrhunderten der Kriege, Streitigkeiten und Demütigungen scheint mit der Umarmung der beiden alten Männer die düstere Vergangenheit zwischen beiden Ländern ein Ende zu finden. Die historische Last wiegt schwer: Deutsch-französischer Krieg, Erster Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzungszeit, die das negative Deutschlandbild der Franzosen besonders prägen. Und erst wenige Jahre zuvor hatte der Konflikt um das Saarland eine deutsch-französische Aussöhnung erschwert.

Und nun der Bruderkuss. Eine Geste, die sicher echt war, in der aber gleichzeitig auch politisches Kalkül steckte. Ein Vertrag allein, das wussten beide, würde die Gewaltgeschichte beider Länder nicht überwinden helfen. Bilder, emotionale Gesten und eine Personalisierung der Politik sollten nachhelfen in einer Zeit, in der das Fernsehen immer wichtiger wurde.

Natürlich ging dem Elysée-Vertrag eine lange Zeit der Annäherung voraus – nicht nur die von Adenauer und de Gaulle. Grundsteine dafür legten schon Franzosen wie Robert Schuman und Jean Monnet sowie die Montanunion im Jahr 1952, also der Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion. Auch die Römischen Verträge 1957 und das Inkrafttreten der Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958 brachten Bonn und Paris einander näher.

Als de Gaulle 1958 nach dem Ende der IV. Republik Präsident wurde, war Konrad Adenauer zunächst skeptisch: Würde der General die Verständigungspolitik mit Deutschland fortführen? Der Résistance-Held hatte 1940 aus dem Exil in London das „Komitee Freies Frankreich“ gegründet und zum Widerstand gegen die Nazi-Besetzung Frankreichs und die Kollaborations-Regierung von Marschall Pétain aufgerufen. Doch die Chemie zwischen beiden Staatsmännern stimmte. Charles de Gaulle lud Adenauer zu einem Treffen in sein Privathaus in Colombey-les-Deux-Églises ein. Die beiden verstanden, schätzten und bewunderten sich. Der frühere Kölner Bürgermeister Adenauer war für de Gaulle jemand, der sich während des Nationalsozialismus würdig verhalten hatte und der Deutschland seit 1949 mit Strenge regiert, wie er sehr schätzte: „Niemand kann besser als er meine Hand ergreifen. Aber niemand kann sie ihm besser reichen als ich.“

1962 scheint es, als wollten beide Staatsmänner die Öffentlichkeit auf den Vertrag einschwören. Im Juli besucht Adenauer Frankreich. Am 8. Juli nehmen sie teil an einem Versöhnungsgottesdienst in der Kathedrale von Reims und hören gemeinsam das Te Deum. Im September dann der Gegenbesuch de Gaulles in der Bundesrepublik. Er schmeichelt den Deutschen mit Sätzen wie „Sie sind ein großes Volk!“ oder „Es lebe Deutschland, es lebe Frankreich, es lebe die deutsch-französische Freundschaft.“ Die Deutschen jubeln ihm zu.

Alleingang zu zweit

Im Januar darauf geht dann das Bild von der Umarmung der beiden Staatsmänner um die Welt. In den USA und Großbritannien ist man not amused - man fürchtet einen Alleingang zu zweit. De Gaulle scheint stolz einen neuen engsten Verbündeten zu präsentieren – und das nur wenige Tage, nachdem er für einen Eklat gesorgt hat: Erst am 14. Januar hatte der General nämlich verhindert, dass Großbritannien in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG aufgenommen wurde. In seiner Vorstellung gehört das Königreich nicht zu Europa, sondern ist ein Anhängsel der USA.

So feierlich der 72-jährige de Gaulle und der 87-jährige Adenauer den Freundschaftsvertrag inszenierten – beide hatten ihre ganz eigenen Interessen im Blick. Es ist die Zeit des Kalten Kriegs. 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Amerikanische und sowjetische Panzer hatten sich an der Sektorengrenze im August einige Tage lang gegenübergestanden. 1962 folgt die Kubakrise: Die Menschen fürchteten, dass ein Atomkrieg Wirklichkeit werden könnte. All das machte den Deutschen klar, wie sehr Deutschland und Berlin die schützende Hand der USA brauchten.

Adenauer wollte seit seiner ersten Wahl zum Kanzler 1949 die Bundesrepublik eng an den Westen binden. Doch gleichzeitig wuchs beim Kanzler mehr und mehr die Sorge, dass Deutschland langsam aus dem Blickpunkt der USA geraten könnte. „Deutschland war enttäuscht über das Lavieren Washingtons in der Berlinkrise und hätte sich eine stärkere Positionierung der USA den Sowjets gegenüber gewünscht“, sagt Hélène Miard-Delacroix. Natürlich wollte man gute Beziehungen zu den USA, natürlich war man Washington dankbar. „Aber es gab in der deutschen Politik auch die Meinung, dass eine Bindung an den französischen Nachbarn zusätzliche Sicherheit bietet.“

De Gaulle wiederum war die Führungsposition der Amerikaner gegenüber der Bundesrepublik und in Europa ein Dorn im Auge. Er fürchtete um Frankreichs Vormachtstellung, er pochte auf ein militärisch vollkommen selbstständiges Frankreich und lehnte die von US-Präsident John F. Kennedy gewünschte multilaterale Atommacht unter Nato-Oberkommando ab. De Gaulle wurmte zudem, dass die französischen Fouchet-Pläne gescheitert waren. Deren Ziel war es, dass die Mitgliedstaaten der EWG eine europäische politische Union bildeten.

Frankreich wollte mit dem Partner Deutschland die eigene Rolle stärken. Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe war mit dem Vertrag aber nicht gemeint. Nach Vertragsabschluss sagte de Gaulle einmal: „In Wirklichkeit werden wir die Zügel dieses Europas in der Hand halten, denn wir haben die Atombombe und den weltweiten Einfluss. So wird es bleiben, solange Deutschland nicht wiedervereint ist.“

Aufregung im Bundestag

Als Adenauer aus Paris zurückkehrt, schlagen die Wellen bereits hoch. Die Gegner des Elysée-Vertrags finden sich nicht nur in der Opposition, sondern auch in Adenauers eigener Partei, der CDU. Sie warnen, Washington könne sich von Bonn abwenden, Westdeutschland unter französische Vorherrschaft geraten, das nordatlantische Bündnissystem aushöhlen und die EWG weiteren Schaden nehmen. Deutsche Abgeordnete reisen sogar besorgt in die USA, um Irritationen auszuräumen.

Es ist ein Streit der „Atlantiker“ gegen die „Gaullisten“. Adenauer muss fürchten, dass der Bundestag den Vertrag nicht ratifizieren wird. Es kommt schließlich zu einem Kompromiss: Dem Elysée-Vertrag wird eine Präambel vorangestellt. Dieser atlantische Zusatztext betont die Bedeutung einer „engen Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika“ sowie die „gemeinsame Verteidigung im Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses“. Auch wünscht der Text, dass Großbritannien in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen wird. Alles Punkte, die de Gaulle zuwider laufen – geht es ihm doch gerade um eine Emanzipation Europas von den USA.

Als die Präambel Wirklichkeit wird, reagiert de Gaulle heftig: „Die Amerikaner versuchen, unseren Vertrag seines Inhalts zu entleeren.“ Die deutschen Politiker hätten Angst, sich nicht genügend den Angelsachsen zu unterwerfen. „Sie benehmen sich wie Schweine. Sie würden es verdienen, dass wir den Vertrag kündigen und einen Allianzenwechsel vollziehen und uns mit den Russen einigen.“ Der Vertrag trat schließlich am 2. Juli 1963 in Kraft. Die Achse Bonn-Paris entsteht zwar. Doch die deutsch-französische Freundschaft erlebt als Erstes einen Fehlstart. Es braucht die Nachfolger-Paare – von Pompidou und Brandt über Giscard d´Estaing und Schmidt, Mitterrand und Kohl bis Chirac und Schröder, damit ein Fundament entsteht. Und vor allem viele Bürger, die sich für den Nachbarn interessierten.

Im Sommer 1963, wenige Tage vor seinem ersten Besuch in Deutschland nach Vertragsunterzeichnung, lässt de Gaulle bei einem Diner im Elysée-Palast seine Skepsis über die Zukunft des Vertrags anklingen: „Sehen Sie mal“, sagt er zu Parlamentariern, „Verträge sind wie junge Mädchen und Rosen: Sie halten so lange, wie sie halten. Wenn der deutsch-französische Vertrag nicht zur Anwendung käme, wäre er nicht der erste in der Geschichte.“ Adenauer will das nicht unkommentiert stehen lassen. Beim Besuch de Gaulles entgegnet der Kanzler und Rosenliebhaber bei einem Abendessen im Palais Schaumburg ebenso durch die Blume:
„Aber die Rose - und davon verstehe ich nun wirklich etwas, das lasse ich mir von niemandem bestreiten - ist die ausdauerndste Pflanze, die wir überhaupt haben. Sie hat hier und da Dornen, sicher, meine Damen und Herren, dann muss man sie mit Vorsicht anfassen. (...) Jawohl, diese Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland ist wie eine Rose, die immer wieder Blüten bringt, die immer wieder Knospen treibt und wiederum Blüten bringt und die alle Winterhärten glänzend übersteht.“