Chavismus ohne Chávez, das kann eigentlich nicht funktionieren, der Chavismus brauchte diese außergewöhnliche Führungsfigur, diesen Mann, der einer Mission folgte: den Sozialismus des 21. Jahrhunderts einführen und Lateinamerika im Sinne des Befreiers Simón Bolívar zu einen. Eine Mission, die er unübersehbar angeschoben hat, aber nicht zu Ende führen konnte. Hugo Chávez ist zu früh gestorben und letztlich an seinem polternden Extremismus gescheitert. Denn er sah die Welt nur in Schwarz und Weiß, Feinde und Freunde, und die Welt sah ihn entweder Schwarz oder Weiß: als egomanen Autokraten oder als Heilsbringer. Damit wurde er zum Symbol der Polarisierung Ende des letzten Jahrhunderts in Venezuela und in weiten Teilen Lateinamerikas. Sein Chavismus war letztlich ein extremer Pendelausschlag. Als er 1999, demokratisch gewählt, das Präsidentenamt übernahm, ging das neoliberale Jahrzehnt Lateinamerikas zu Ende. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Überwindung brutaler Militär-Diktaturen in Mittel- und Südamerika hatte "der Markt" die Macht übernommen. Papst Johannes Paul der Zweite geißelte das als "entfesselten Kapitalismus" mit den negativen Folgen Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Umweltzerstörung und wachsender Kluft zwischen Arm und Reich. Im erdölreichen Venezuela lebten 1999 über 50 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Erst Hugo Chávez gab den Marginalisierten in den Slums von Caracas Lebensmittel, Schulen, Ärzte - und Selbstvertrauen. Das erklärt die Verehrung, die ihm in den Barrios entgegengebracht wird, das erklärt, warum er alle Wahlen und - bis auf eine Ausnahme - alle Volksabstimmungen gewonnen hat. Heute liegt die Armutsquote laut Weltbank bei 31,9 Prozent, Grundnahrungsmittel werden subventioniert, die Schulspeisung und Volksküchen sind ausgebaut, in Gesundheitszentren wird kostenlos behandelt, die UNESCO erklärte das Land zur vom Analphabetismus befreiten Zone. All das gehört zur weißen Seite des Hugo Chávez, die seine Gegner im In- und Ausland gerne ausblenden. Aber je länger er an der Macht war, desto stärker zeigte sich seine schwarze Seite. Nach dem gescheiterten Putsch der reichen Oberschicht gegen ihn - im April 2002 - wurde er zusehends intoleranter und autoritärer. Politische und journalistische Gegner wurden bedrängt oder kaltgestellt, Menschenrechte missachtet, die eigenen Leute bevorzugt. Korruption und Misswirtschaft blühten auf. Die eigentlich positiven Sozialprogramme konnte Chávez nicht für nachhaltige Entwicklung nutzen. Es blieb bei, wenn auch lebenswichtigen, Geschenken an die Armen. Die Wirtschaft litt, heute hat Venezuela die höchste Inflation Südamerikas, ist hoch verschuldet. Und das verhindert den Aufstieg aus der Armut in eine Mittelschicht. Das Pendel ist in Venezuela von einem Extrem, dem ungezügelten Neoliberalismus, ins andere ausgeschlagen: zum autoritären Klientel-Sozialismus. Da verbirgt sich die Chance der Nach-Chávez-Ära: die Errungenschaften seiner Sozialpolitik erhalten und gleichzeitig die demokratischen und wirtschaftlichen Kräfte zu stärken. Und Nicolás Maduro, Chavist und mutmaßlich nächster Präsident Venezuelas, hat noch eine Chance: Der gelernte Diplomat, er war über sechs Jahre lang Außenminister, könnte Chávez' zweite Mission erfolgreich weiterführen: die Integration Lateinamerikas. Der Verstorbene hatte Anteil daran, aus dem Hinterhof der USA selbstbewusste Staaten zu machen. In seinem Fahrwasser waren zahlreiche linke oder sozialdemokratische Politiker in die Präsidentenpaläste eingezogen. Gemäßigte Lateinamerikaner aber verschreckte Chávez immer wieder: durch seinen polternden Antiamerikanismus und durch zwielichtige Freunde, die er nach dem Schema suchte: Jeder Anti-imperialist muss ein Guter sein. So verbündete er sich mit Ahmadinedschad, Lukaschenko, Gaddafi und Assad - und torpedierte tollpatschig sein Ziel einer engen Verflechtung lateinamerikanischer Staaten. Und das ist die zweite Chance der Nach-Chávez-Ära: Ohne den Polterer ist eine pragmatische Zusammenarbeit möglich, nicht mehr gegen die USA, sondern auf Augenhöhe. Deshalb wäre es gut, den Chavismus gleich mit dem Leichnam des Hugo Chávez einzubalsamieren.
Michael Castritius
Berlin
Émission radio