Die Bereitschaft der Menschen, Blut zu spenden, sinkt. Mediziner warnen vor drohenden Engpässen. Wie kann die Versorgung in Zukunft sichergestellt werden?
von Merle Bornemann 21. Oktober 2018, 15:41 Uhr
Lütjensee | Kurt ist auf den ersten Blick ein Chaot. Scheinbar ohne System stellt er die Transportkisten mit den roten Blutbeuteln ins Lager, die eine hier, die andere dort. Wie soll man da etwas wiederfinden?
Dennoch wird das
Spenderblut immer in der richtigen Reihenfolge verarbeitet, denn Kurt
ist ein Roboter, der den Durchblick behält und das Blut nach dem Prinzip
„first in – first out“ lagert. Sein menschlicher Kollege hinter der
Glasscheibe muss nur einen Knopf drücken, um eine neue Kiste zur
Verarbeitung anzufordern. Schon surrt Kurt los und liefert nach wenigen
Sekunden.
Wir befinden uns in Lütjensee im Kreis Stormarn, auf halbem Weg zwischen Hamburg und Lübeck. Hier wohnen nur 3300 Menschen, aber es gibt Blut für den ganzen Norden. Denn hier hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) sein Institut für Transfusionsmedizin, wo sämtliche Blutspenden aus Schleswig-Holstein und Hamburg verarbeitet werden. Was einst ein mondänes Hotel mit Kaffeegarten in idyllischer Lage direkt am See war, ist heute ein komplett erneuertes, modernes Gebäudeensemble. „Spende lut e m R ten Kreuz. Erst wenn’s fehlt, fällt’s auf“ steht auf einem riesigen Plakat am Eingang.
Drei Präparate werden aus der Vollblut-Spende hergestellt
Am Abend, zwischen 20 und 23 Uhr, treffen die mobilen Entnahmeteams, die täglich in allen Ecken Schleswig-Holsteins im Einsatz sind, in Lütjensee ein und übergeben ihre Ausbeute an Kurt, den fleißigen Roboter. Bei 21 Grad verweilen die Beutel über Nacht im Lagerraum, bevor sie am nächsten Morgen von der Frühschicht verarbeitet werden. „Dass das Blut zunächst ruht, tut ihm gut, weil die weißen Blutkörperchen dann ihre Polizeiarbeit aufnehmen und Krankheitserreger zerstören können“, erklärt Lizardo. Doch zu lange darf diese Ruhe nicht weilen. „Innerhalb von 24 Stunden müssen wir das Blut verarbeitet haben – gerechnet ab der Nadel im Arm“, erklärt sie.
Spendebereitschaft lässt nach
200.000 Blutspenden könnten hier im Jahr verarbeitet werden, doch dass Lizardos Team je an diese Auslastungsgrenze stößt, ist unwahrscheinlich. Die Bereitschaft, Blut zu spenden, geht in den letzten Jahren immer weiter zurück – um 2,4 Prozent sinkt die Anzahl beim DRK in Schleswig-Holstein und Hamburg pro Jahr. Dabei steigt das Durchschnittsalter um rund 0,6 Prozent und liegt aktuell bei 46,3 Jahren. Das Problem: Bedingt durch den demografischen Wandel erhöht sich der Bedarf an Spenderblut langfristig, prognostiziert Prof. Dr. Siegfried Görg, Institutsdirektor Transfusionsmedizin am UKSH in Lübeck. „Ein Mensch, der heute 70 ist, ist biologisch zwar deutlich jünger als vor 20 Jahren und die Wahrscheinlichkeit, dass er Blut benötigt, geringer – es kann aber sein, dass er diese Krankheiten eben mit 80 bekommt.“ Wer länger lebt, kann auch länger Blut benötigen.
Vier bis fünf Millionen Bluttransfusionen führen Ärzte in Deutschland jährlich durch. In den letzten Jahren ging der Verbrauch zwar leicht zurück, doch schon bald wird sich die steigende Lebenserwartung in einem steigenden Bedarf bemerkbar machen, meint Görg. „Im UKSH sehen wir das schon jetzt: 2018 verbrauchen wir fünf Prozent mehr als 2017. Die Ursache wird noch erforscht.“ 85 Prozent der Präparate gewinne das Klinikum an den Standorten Kiel und Lübeck in den eigenen Blutspendezentren, während die übrigen 15 Prozent zum Beispiel vom DRK zugekauft werden. Allein 40.000 sogenannte Ery-Konzentrate aus roten Blutkörperchen verbraucht das Krankenhaus aktuell pro Jahr. Ein millionenschwerer Kostenpunkt. Da liegt es nahe, nach Sparpotenzial zu suchen.Vision einer transfusionsfreien Klinik
Vor drei Jahren nahm das UKSH an einer Studie teil, in der es ums Blutsparen in der Praxis ging. Im Zentrum steht dabei die OP, bei der durch verfeinerte Techniken weniger Blut verloren gehen soll, oder aber das Auffangen durch „Cell Saver“-Maschinen, die das Wundblut waschen und wieder zurückgeben. Doch schon vor einem Eingriff kann man mit dem Sparen beginnen: durch weniger Blutentnahmen und wenn, dann in kleineren Mengen. Und durch Untersuchungen des Blutfarbstoffes im Vorhinein. Ist der Wert zu niedrig, wird die OP verschoben und der Patient zunächst mit Eisentabletten behandelt. Da die meisten Eingriffe geplant sind, ist das lediglich eine Frage der Organisation. „Aber mit jedem kann man das natürlich nicht machen. Kommt ein Patient mit einem bösartigen Tumor, schickt man den nicht nochmal drei Wochen nach Hause. Und Unfallopfer bilden ohnehin die Ausnahme“, sagt Görg.
Dr. Patrick Meybohm vom Uni-Klinikum in Frankfurt äußerte kürzlich in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“: „Ich stelle mir ein transfusionsfreies Krankenhaus vor, wenn es um geplante Operationen geht. Dann bleiben die Blutprodukte für die Patienten übrig, die sie wirklich brauchen, zum Beispiel für Opfer von Verkehrsunfällen.“Der Verbrauch von
Spenderblut lässt sich zwar reduzieren, dennoch ist die Medizin
weiterhin darauf angewiesen. Denn die Forschung an Kunstblut steckt
immer noch in den Kinderschuhen. „Das hat alles nicht so funktioniert,
wie man sich das vorstellen würde und bislang hat man noch keinen Weg
gefunden, große und bezahlbare Mengen zu produzieren“, erklärt Siegfried
Görg.
„Das wird eine große Anstrengung für die gesamte Gesellschaft.“
Siegfried Görg,Transfusionsmediziner UKSH
Daher ist und bleibt der Motor des Systems die Spendebereitschaft
der Menschen. Dass diese in den letzten Jahren deutlich sinkt,
beunruhigt den Transfusionsmediziner, die Blutspendedienste und auch die
Weltgesundheitsorganisation, die bereits vor Engpässen warnt, die in
den nächsten Jahrzehnten entstehen könnten. Denn auch wenn der einzelne
Mensch weniger braucht, wird die Gesamtzahl derer, die etwas benötigen,
steigen. „Ich glaube nicht, dass der Notstand ausbricht, aber wir müssen
uns noch viel mehr anstrengen, mehr Werbung machen, es den Spendern
leichter machen“, meint Siegfried Görg. „Das wird eine große Anstrengung
für die gesamte Gesellschaft.“
Engpässe bei seltenen oder besonders kompatiblen Blutgruppen
In den Kühlräumen beim DRK in Lütjensee sind die Schwachstellen schon
jetzt sichtbar. Während die Regale mit der Blutgruppe „A“ gut gefüllt
sind, stehen bei der Markierung „0 negativ“ gerade einmal sechs
Päckchen. Rund um Feiertage oder zur Urlaubszeit im Sommer kann es schon
mal richtig knapp werden – gerade, wenn es um seltene oder besonders
kompatible Blutgruppen geht. Wie bei der Blutgruppe 0. „Leider gehen
Ärzte oft unbedarft mit den Transfusionen um. Ist die Blutgruppe des
Patienten unbekannt, verwenden sie gern 0, weil man dieses Blut ohne
Risiko jedem geben kann“, sagt Herstellungsleiterin Bettina Lizardo. Bei
den anderen Blutgruppen muss zunächst ein Verträglichkeitstest gemacht
werden, auch wenn die Blutgruppe des Patienten bekannt ist. Die Zeit
würden sich offenbar viele sparen wollen, bedauert sie. Deshalb werde „0
negativ“ gehütet wie ein Schatz.
Präparate nur begrenzt haltbar
275 Liter Blut müssen im Schnitt am Tag aufbereitet werden, um die Versorgung in der Region sicherzustellen. Das entspricht 550 Blutspenden pro Tag. Die kommen nicht immer zustande. Wenn dann wie in Kürze mit dem Reformationstag ein weiterer Feiertag ansteht, bedeutet das viel Planung für Lizardos Team. Denn für Geburten, Unfälle und Transplantationen müssen immer noch Notfallmengen bereitgehalten werden. Da die Präparate nur begrenzt haltbar sind, nützt auch ein Vorrat wenig.
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