Die Dämmerung taucht das Stadion in ein warmes Licht. Hunderte Menschen schwenken Flaggen durch die Luft. Viele stehen auf ihren Stühlen und halten Handys hoch, um über die Köpfe hinweg den Pianisten in der Mitte zu filmen. Die Menge singt die Nationalhymne. So sieht es in anderen Staaten aus, wenn ein Diktator sich vom Volk huldigen lässt. Doch hier ist es anders, die Menschen feiern sich selbst. Und auf den Besitz einer irakischen Flagge stand in Mossul, Irak, noch bis vor Kurzem die Todesstrafe. Es ist der Eröffnungsabend eines Friedensfestivals an jenem Ort, der noch im Sommer 2017 so etwas wie die irakische Hauptstadt der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) war. Männer, Frauen, Familien und Jugendliche schlendern über die Laufbahn, neben der ein Torbogen aus Sperrholz steht - eine Nachbildung des historischen Markteingangs der Altstadt, der wenige Kilometer entfernt in Trümmern liegt. Dahinter reihen sich Dutzende Marktstände aneinander. Der Basar, das Herz von Mossul - hier schlägt es schon wieder, wenn auch nur für ein paar Tage. „Vor zwei Jahren noch wäre ich für das hier umgebracht worden", sagt der Gründer des Festivals, Sakar Al-Zakharia. Der 30-Jährige geht über das Gelände und ruft hier und da einem der Helfer etwas zu. Er hat das runde Gesicht eines Teenagers und die Stimme eines 50-jährigen Kettenrauchers. Sein Friedensfest bietet so ziemlich alles, was Islamisten bekämpfen: Musik, genauer einen Auftritt des Cellisten und Chefdirigenten des irakischen Nationalorchesters, Karim Wesfi. Vielfalt, genauer Zelte, in denen sich die Religionsgemeinschaften der Provinz vorstellen. Einen Bücherverkauf. Und eine Teestube, in der die Leute nicht nur Tee trinken, sondern auch Zigaretten rauchen. Es ist nicht lange her, da sah das Leben in Mossul anders aus. Drei Jahre lang kontrollierte der IS die Stadt. Er herrschte mit einem Maß an Gewalt, das selbst für die Kriege gewohnten Iraker ein Schock war. Zigaretten, Musik und nichtreligiöse Bücher waren verboten. Wer sich gegen die Herrscher auflehnte, Informationen an die irakische Armee weitergab oder versuchte zu fliehen, riskierte, öffentlich enthauptet zu werden. Ist es fahrlässig, was Al-Zakharia macht? Muss man verrückt sein, ein Festival in Mossul zu organisieren - so kurz nach der Vertreibung des IS? Al-Zakharia zuckt mit den Schultern. Angst vor einem Anschlag habe er nicht, schließlich war Mossul in den vergangenen Monaten so ruhig wie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr. Nur einmal wurde er nervös, als das Festival - die Befreiung war keine drei Monate her - im vergangenen September zum ersten Mal stattfand. Er habe keine großen Erwartungen gehabt, sagt Al-Zakharia: ein paar Hundert Zuschauer vielleicht. Es kamen 25.000. Eine riesige Menschenmenge drängte sich am Eingang des Stadions und wartete auf Einlass. Die Armee schlug Alarm. Sie forderte Verstärkung an. Es passierte: nichts. In den Monaten danach wartete Al-Zakharia: auf die nächste Autobombe, darauf, dass der IS wieder erstarken würde. Wirklich weg sind die Terroristen nicht - im Umland Mossuls sowie in anderen Teilen des Iraks verüben IS-Zellen weiter Anschläge. In Mossul selbst blieb es lange Zeit ruhig. Dann explodierte im November 2018 im zerstörten Westen der Stadt eine Autobombe. Drei Menschen starben, zwölf weitere wurden verletzt. Wie haltbar ist der Frieden, auf den die Menschen in Mossul so lange gewartet haben, und wann kommt der nächsten Sturm? Wie kann ein Land Ruhe finden, das seit Jahrzehnten Kriege und Krisen erlebt? 1988 endet der Erste Golfkrieg gegen den Iran mit einem Waffenstillstand zwischen Ayatollah Chomeini und Saddam Hussein. 1991 erobert der Irak das Nachbarland Kuwait. Die darauffolgenden Sanktionen der USA gegen Saddams Regime ringen die Wirtschaft zu Boden, viele Iraker verlieren ihr Auskommen. 2003 marschiert eine US-geführte „Koalition der Willigen" ein und stürzt Saddam Hussein. Die Sunniten, die jahrzehntelang den Irak dominiert haben, verlieren die Macht im Land an die Schiiten. Mossul, die „Stadt der zwei Frühlinge", wo im Herbst noch einmal alles ergrünt, war unter Saddam Hussein ein Ort der Privilegierten gewesen. Die größte mehrheitlich sunnitische Stadt im Irak war jener Ort, aus dem die meisten seiner Generäle stammten. Nach seinem Sturz wird Mossul zu einer Hochburg islamistischer Terrormilizen, die sich den enttäuschten Sunniten als Alternative zur schiitischen Dominanz in Bagdad anbieten. Autobomben, Entführungen und Mord auf offener Straße sind Alltag. Journalisten, Intellektuelle, Künstler, Musiker und Angehörige von Minderheiten geraten ins Visier der Extremisten. Und das Schlimmste steht noch bevor. Im Juni 2014 überrennt der IS weite Teile des Nordiraks und Syriens. Im Juli geht ein Video aus Mossul um die Welt: Der Anführer, Abu Bakr Al-Baghdadi, steht in der Al-Nuri-Moschee im Herzen der Altstadt und ruft ein „Kalifat" aus. Die Rückeroberung Mossuls durch die irakische Armee, kurdische Peschmerga, schiitische Milizen und ein internationales Militärbündnis dauert neun Monate - von Oktober 2016 bis Juli 2017 - und kostet mindestens 9000 Zivilisten das Leben. Es ist eine der größten Schlachten um eine Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg. „Die Leute vom IS sind Medienprofis", sagt der Gründer des Friedensfestes Al-Zakharia. „Die Islamisten waren sehr gut darin, Mossul vor allem als Ort des Terrors zu präsentieren." Al-Zakharia ist eigentlich Journalist, und als solcher kämpft er schon lange gegen die Zerrbilder an. Als der IS Mossul übernahm, lebte er in Bagdad. Er gründete eine Facebook-Seite, auf der er versuchte, der Botschaft des IS etwas entgegenzusetzen: das Bild Mossuls als multiethnischer Stadt, in der von alters her Sunniten, Assyrer, Kurden, Jesiden und schiitische Schabak friedlich zusammenlebten, das Bild von Kultur und Bildung. Dafür, sagt Al-Zakharia, habe der IS das Haus seiner Eltern in Mossul konfisziert. Er selbst hatte die Stadt 2004 mit nur 16 Jahren verlassen. „Mossul war für mich tot", sagt er. Das änderte sich, als der IS die Kontrolle übernahm. Warum genau, kann er nicht sagen, aber in jenem Moment war sein Geburtsort ihm wieder nah. „Ich habe nie in meinem Leben so geweint." Al-Zakharia ist einer von vielen jungen Mossulern, die sich für eine friedliche Zukunft ihrer Stadt engagieren. Es sind Männer und Frauen, meist zwischen Anfang und Ende zwanzig - eine Generation, die mit dem Alltag des Terrors, des Kriegs und dem Hass gegen Andersgläubige groß geworden ist. Und viele haben genug davon. In die Straße, die sich am Stadion entlangzieht, ist das Leben zurückgekehrt: Restaurants, Geschäfte und Shisha-Bars locken, Musik dröhnt aus den Taxis, die sich in Richtung Tigrisufer schieben, auf dem Gehweg bummeln Passanten. Tahany Saleh hat ihr Kopftuch locker um das schmale Gesicht geworfen. Sie sitzt im Café Qantara. Es ist eines von zwei neuen Büchercafés, die kürzlich eröffnet haben. Hier treffen sich die Intellektuellen der Stadt, Studenten und Professoren, Künstler und Journalisten. Im hinteren Bereich stehen Bücherregale, an den Wänden hängen Fotos von Mossuls zerstörter Altstadt, Handschellen und ein orangefarbener Overall. Solche Anzüge zog der IS in seinen Enthauptungsvideos den Opfern an - der im Café Qantara erinnert an den Horror dieser Zeit. Saleh spricht leise, aber mit Dringlichkeit in der Stimme. „Ich glaube, der IS konnte Mossul nur einnehmen, weil wir alle zu sehr mit uns selbst beschäftigt waren", sagt die 28-Jährige. Es gab keinen Zusammenhalt in der Zivilgesellschaft, keinen kulturellen Austausch, keine öffentlichen Plattformen für Aktivisten - Terror und Angst erstickten alles. Umso einfacher sei es nach Saddams Sturz für Extremisten gewesen, sich den Menschen als Alternative anzubieten. Vor allem junge Männer hätten keine Alternative mehr zur Gewalt gesehen. Ein Ort wie das Qantara sei in Mossul auch vor dem IS undenkbar gewesen, erzählt Saleh. Künstler, Wissenschaftler und Journalisten, die nach dem Sturz des Regimes 2003 auf eine Befreiung der Kultur gehofft hatten, wurden als Ungläubige verfolgt. Nietzsche oder Kafka zu lesen, konnte tödlich sein, Reporter gingen zur Tarnung im Trainingsanzug zu Interviewterminen, und Musiker schmuggelten Instrumente in Mehlsäcken zur Probe. Für Tahany Saleh ist Al-Zakharias Festival mehr als eine Botschaft des Friedens. Es gehe darum, der Kultur ihren Platz zurückzugeben. „Kultur", sagt sie, „ist ein wesentliches Instrument für den Frieden." Sie hatte Wirtschaft studiert, bevor der IS ihre Fakultät schloss und Frauen nur noch vollverschleiert und in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds auf die Straße durften. Saleh blieb zu Hause und fing an, die Geschichten aufzuschreiben, die Freunde und Verwandte erzählten, wenn sie zu Besuch waren. Über ein Jahr lang füllte sie 500 Seiten über den Alltag im Kalifat. Dann bekam sie Angst. Was, wenn der IS die Papiere finden würde? Sie verbrannte alles, was sie geschrieben hatte. Im Frühling 2017, nachdem der Osten der Stadt befreit war, rettete die junge Frau zusammen mit anderen Freiwilligen 30.000 Bücher aus der Zentralbibliothek. Der Islamische Staat hatte das Gebäude im Jahr zuvor in Brand gesetzt und fast alle der eine Million Bücher vernichtet. „Die Aktion in der Bibliothek war das erste Mal seit Langem, dass wir etwas taten, was nichts mit Gewalt zu tun hatte", sagt Saleh. „Und das in einer Zeit, in der vor allem die Männer nur an den Krieg denken konnten." Die Altstadt - im Westen - war noch umkämpft. Mittlerweile studiert Saleh wieder. Nebenbei engagiert sie sich mit ihrem Projekt „Frauen für Mossul" - eine Facebook-Seite, auf der sie und andere Aktivistinnen Nachrichten über die Situation der Frauen in der Stadt verbreiten. Die Angst, dass der Terror zurückkommen könnte, sei nie wirklich weg. „Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass sich die Situation schnell zum Schlechten verändern kann." Drei Kilometer westlich, am anderen Ufer des Tigris, liegt Mossuls Herz noch immer in Trümmern: Die Zerstörung der Altstadt ist der Preis, den die Menschen für die Befreiung zahlen mussten. Von 200.000 Bewohnern ist nur jeder Zehnte zurückgekehrt. Die meisten Häuser sind unbewohnbar, immerhin gibt es wieder Strom und die Regierung stellt Wasser in Tanks bereit. Manch einer, darunter der Bürgermeister sowie Vertreter der Uno, fürchtet, dass sich die Leute hier wieder Islamisten zuwenden könnten, wenn sie zu lange auf Unterstützung warten müssen. „Ich glaube nicht, dass sich die Menschen hier noch einmal radikalisieren lassen", sagt Mohammed Akef. „Der IS hat gezeigt, wohin das führen kann." Der 21-Jährige tritt mit dem Fuß gegen einen verrosteten Olivenölkanister, der sofort umkippt. „In diesem Ding haben wir Feuer gemacht und darauf gekocht, als wir belagert waren", sagt er. Er steht auf dem Dach des Hauses, in dem er und seine Familie bis kurz vor Ende der Schlacht gelebt haben, und blickt über das Trümmermeer. Gegenüber steht die Al-Nuri-Moschee, das Wahrzeichen Mossuls, wo Al-Baghdadi vor vier Jahren das Kalifat ausrief. „Fuck ISIS" hat jemand auf die Reste der Kuppel gesprüht. Der IS hatte die Moschee kurz vor seiner Niederlage gesprengt. Akef, ein schmaler Typ, der beinahe perfektes amerikanisches Englisch spricht, schüttelt den Kopf, als könne er noch immer nicht glauben, was geschehen ist. In dieser Straße an der Al-Nuri-Moschee lebten Sunniten wie er Tür an Tür mit Menschen vieler anderen Ethnien und Religionen. Das Haus schräg gegenüber gehörte einem Christen, der Mossul bereits im Jahr 2003 verlassen hat. Viele andere sind ihm gefolgt. Akef steigt die Treppe hinunter, vorbei an seinem ehemaligen Zimmer, von dem außer Schutt nichts geblieben ist. Die Familie lebt jetzt in einem Viertel neben der Altstadt. In den Resten ihres ehemaligen Hauses betreibt Akefs Vater seit ein paar Monaten einen kleinen Falafel-Laden. Er war der Erste, der nach dem Rückzug des IS in dieser Straße wieder ein Geschäft eröffnete - in der Hoffnung, andere Nachbarn zur Rückkehr zu bewegen. Inzwischen gibt es auch eine Teestube und einen Kiosk. Rund 1,8 Milliarden Euro wird der Wiederaufbau der etwa 8000 zerstörten und beschädigten Häuser verschlingen, schätzt die Regierung in Bagdad. Aber bisher, das beklagen hier alle, hätten sie nicht einen Dinar gesehen. Viele, auch Akefs Familie, denken darüber nach, den Irak zu verlassen. „Hier gibt es ja keine Zukunft", sagt er. „Und wir können nie sicher sein, dass der Krieg nicht zurückkommt. Wie sollen wir da etwas aufbauen?" Am anderen Flussufer schallt Musik durch das Oval des Stadions. Zwei Männer stehen auf dem Rasen und spielen „Yardele", ein altes Lied aus Mossul, das hier jedes Kind kennt. Es handelt von einem Moslem, der eine Christin liebt und ist die inoffizielle Hymne der Stadt. Entstanden in den Gassen der Altstadt, erinnert es viele an die Zeit, als es dort noch Konzerte gab. Sofort bildet sich eine Traube um die beiden Männer. Die Leute klatschen, einige tanzen. Die Musiker sind ein Christ und ein Jeside, die 2014 vor dem IS aus ihren Städten in der Nähe Mossuls geflohen sind. Heute leben sie wieder dort. Mossul selbst würden sie aber meiden, sagen sie. Die Angst, als Angehörige von Minderheiten zum Ziel von Anschlägen zu werden, sitzt noch immer tief. Für das Friedensfestival machen sie eine Ausnahme.
Meret Michel
Bern / Beirut
Reportage