"Wir wollen keinen Ärger machen, wir wollen einfach nur spielen": Die Curler des SC Riessersee stehen vor einer verschlossenen Halle, die nicht mehr beeist wird. Dahinter steht die Fehde zwischen zwei Familien.
Rainer Schöpp hat einen winzigen Spalt im Vorhang entdeckt, durch den er in die Curlinghalle blicken kann. Es ist eine Perspektive, die er bislang nicht kannte, denn normalerweise würde er einfach durch die Tür der Halle III des Olympia-Eissportzentrums in Garmisch-Partenkirchen gehen, hinein in die jahrelange Heimat des SC Riessersee. Aber diese Tür bekommt Schöpp jetzt nicht mehr auf, offenbar wurde das Schloss ausgetauscht. Deshalb blickt er an diesem Freitagabend im Advent mit zusammengekniffenen Augen durch den blauen Vorhang hinter den Fenstern, die Halle II von Halle III trennen, um zu sehen, was er eigentlich nicht zu sehen erhoffte: In der Halle fehlt immer noch das Eis.
Ohne Eis kein Curling. Für die Curlingabteilung des SC Riessersee, der Rainer Schöpp, 58, vorsitzt, und ihre rund 50 Mitglieder ist die Halle im Ortszentrum der Marktgemeinde existenziell wichtig. Deshalb hat der SCR gegen die Gemeindewerke Garmisch-Partenkirchen Anfang Dezember eine einstweilige Verfügung vor dem Landgericht München erwirkt: Die Halle muss mit sofortiger Wirkung beeist werden, damit Curling gespielt werden kann. Wurde sie aber nicht, wie Schöpp nun mit eigenen Augen gesehen hat. Die Gemeindewerke haben stattdessen Widerspruch eingelegt und sind selbst vor Gericht gezogen. Es herrscht Eiszeit in Garmisch - obwohl das Eis fehlt.
Schöpp hat inzwischen eine Routine entwickelt, wenn er von den Negativentwicklungen für seinen Verein erzählt. Anfang August teilten die Gemeindewerke dem SCR mit, dass die Nutzung der Curlinghalle 2018 ausläuft. Curling unterliege "nicht der Daseinsvorsorge", heißt es in einem Schreiben, die Förderung sei ohnehin 2014 ausgelaufen und der Stützpunkt inzwischen ausschließlich in Füssen angesiedelt. Der Verein beruft sich hingegen auf Vertragspapiere, die eine Nutzung bis 2020 sicherstellen sollen. Eis gibt es bislang trotzdem nicht. "Mich macht das wütend", sagt Schöpp. Die einstweilige Verfügung sei "wertlos" gewesen. Vergeblich versucht er, mit einem Lachen seine Enttäuschung zu verbergen.
Beide Streitparteien haben in den vergangenen Monaten keine Möglichkeit ausgelassen, ihre Gegenseite zu beschuldigen. Schöpp und die Curling-Abteilung des SCR reagierten zunächst trotzig auf die Kündigung, schrieben wütende Texte in den sozialen Medien. Sie werfen den Gemeindewerken vor, das Eissportzentrum systematisch herunterzuwirtschaften und viel zu hohe Betriebskosten zu kalkulieren. Die Werke wiederum beeisten daraufhin die Halle schon für die laufende Saison nicht mehr und bezichtigen Schöpp bezüglich dessen eidesstattlicher Aussage der Lüge - in einer Zeitungsanzeige. Dem Deutschen Olympischen Sportbund, dem Deutschen Curling-Verband und dem Olympiastützpunkt München werfen sie die Fälschung der Nutzungsvereinbarung für die Halle vor. Klaus Pohlsen, der Chef des Olympiastützpunkts in München, wies die Vorwürfe zurück und mutmaßte im Garmisch-Partenkirchner Tagblatt, die Gemeindewerke hätten Termine durcheinander gebracht.
Es wird um Zahlen gestritten, um Daten und Summen, Zeitpunkte und Nutzer. Variablen, die in den unterschiedlichen Perspektiven der Betrachter stark variieren. Eine feste Größe bleibt nur das Streitobjekt: die 750 Quadratmeter Halle und drei Bahnen mit je 45 Metern Länge und knapp vier Metern Breite. Spielfelder, auf denen in den vergangenen Jahren nicht nur die rundlichen Steine aus Granit glitten, sondern auch Machtkämpfe ausgetragen wurden - und noch immer werden.
In der längeren Fassung wird ein Generationenkonflikt deutlich. Von "hausgemachten Problemen" spricht Roland Jentsch, der Vorsitzende des Curling Club Füssen am Bundesstützpunkt nahe der österreichischen Grenze, wenn er auf die Hallenproblematik in Garmisch-Partenkirchen angesprochen wird. Der SCR habe sich auf seinen Erfolgen aus der Vergangenheit ausgeruht und sei ständig in Streitereien verwickelt, statt im eigenen Verein die Entwicklung voranzutreiben. Schuld seien immer die anderen.
Rainer Schöpp verbindet mit Füssen keine guten Erinnerungen. Der SCR sei zum Vorteil der nationalen Konkurrenz in den vergangenen Jahren immer wieder übergangen worden, sagt er - und kritisiert damit auch den deutschen Verband. Aktuellstes Beispiel: Schöpps Schwester Andrea dominiere die Frauen-Szene im Curling, so der Funktionär. Doch das "junge, unerfahrene" Team Jentsch aus Füssen wurde als Nationalmannschaft nominiert. Vor wenigen Wochen verpassten die Frauen aus Füssen die Olympia-Qualifikation. Deutschland wird in Pyoengchang Anfang 2018 nicht vertreten sein. "Das ist jetzt die Quittung", sagt Schöpp.
Man ist nicht gut aufeinander zu sprechen in Füssen und Garmisch. Die Familien Schöpp und Jentsch mögen sich nicht. Und da Curling hierzulande eine olympischen Randsportart ist, in der jeder jeden kennt, ist das kein Geheimnis. "Curling ist ein Familienzirkus", sagt Schöpp, "aber wenn man die Familie in Klammern setzt, ist der Zustand der Sportart in Deutschland noch besser beschrieben."
Von einem Zirkus spricht Bernhard Mayr, der Präsident des Deutschen Curling-Verbands, logischerweise nicht, wenn er den Zustand der Sportart einordnet. Nach der verpassten Olympia-Qualifikation habe der Verband "jeden Stein umgedreht" und den eingeschlagenen Weg hinterfragt. Dabei sei man zwangsläufig auf den SC Riessersee gekommen: "Andrea Schöpp ist eine der besten Curlerinnen der Welt", sagt Mayr, "ihre Klasse und Erfahrung würde dem Nachwuchs, auf den wir setzen, weiterhelfen." Doch leider sei sie als Mentorin für junge Spielerinnen nicht geeignet, weil sie mit dem Fair-Play-Gedanken des Verbands nicht kompatibel sei.
Die Schöpps sind unbequem - und Streitereien der Altgedienten kann der DCV-Präsident nicht brauchen: "Wir kämpfen jeden Tag um Sport und Eis und darum, uns als Verband weiterzuentwickeln." Mayr fällt es deshalb schwer, sich in der Hallenproblematik für einen Verein stark zu machen, von dem er "unsachlich kritisiert wird". Grundsätzlich sei es wünschenswert und notwendig, dass im Wintersportort Garmisch-Partenkirchen Curling gespielt wird. Die Opferrolle, in der der SC Riessersee sich sieht, könne er aber nicht nachvollziehen. Mayr fordert von dem Verein, "andere Einnahmequellen für die Hallenfinanzierung zu finden und sich am Markt aktiver zu zeigen", so wie andere Klubs in Deutschland es mit Initiativen im Breitensport tun.
Womöglich ist es dafür jetzt zu spät. Im Moment hat Riessersee auch keine Kaderathleten mehr, die für die Entwicklungsarbeit des Vereins sprechen könnten. Und ohne Eis sind die Aussichten auf neue Talente schlecht. "Wir wollen ja keinen Ärger machen", sagt Rainer Schöpp, "wir wollen einfach nur spielen." Er macht Gemeindewerke und Politik in Garmisch-Partenkirchen für die Hallenproblematik verantwortlich: Die Marktgemeinde habe den Anspruch eines Wintersportorts, mache aber gleichzeitig das Curling platt.
Rainer Schöpp fehlt sein Sport - mit den Freundschaften und den Feindschaften. Jetzt in der Weihnachtszeit stünde er besonders gerne auf der Eisbahn, fast jeden Tag. Dann würde ein paar Stunden gespielt, am Ende - so ist das beim Curling üblich - gäben die Gewinner den Verlierern ein Getränk aus. Stattdessen trifft er seine Teamkollegen jetzt zum Schach oder Karten spielen.
Am 11. Januar wird in München vor Gericht in einer mündlichen Verhandlung entschieden, wer im Curling-Streit von Garmisch-Partenkirchen gewinnt und wer verliert. Eines dürfte aber schon jetzt klar sein: Diesmal geben die Gewinner den Verlierern nichts aus.
In dieser Serie erzählt die SZ Geschichten rund um bekannte und ungewöhnliche Orte, an denen Sport getrieben wird. Dies ist der erste Teil.
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