Am vierten Tag, als die Wellen in das schwarze Schlauchboot schwappen, versagt der Motor. Irgendwo auf dem Mittelmeer, wohl nicht allzu weit entfernt von der Insel Lampedusa. Abdulkadir und 120 andere Flüchtlinge quetschen sich in diesem Moment auf dem neun Meter langen Stück Gummi. Geschlafen haben sie in den Tagen und Nächten zuvor nicht, gegessen und getrunken nur wenig. Panik bricht aus. Ein Mann ruft: „Ich schwimme jetzt nach Italien" und springt ins Meer. Abdulkadir hat Angst, aber immerhin eine Rettungsweste. Er ist einer von gerade mal zehn Menschen, die die rote Weste tragen. Seine Schwester hat dafür ihr letztes Geld ausgegeben, ihm zuliebe auf eine eigene verzichtet. „In der Ferne haben wir dann ein großes Boot gesehen", erinnert sich Abdulkadir. Weitere Menschen springen ins Wasser. Dann verliert der damals 15-Jährige sein Bewusstsein, wacht drei Tage später in einem Krankenhaus in Neapel auf. Außer ihm haben 20 andere überlebt. Seine Schwester nicht.
Geflohen vor Al-ShabaabHeute ist Abdulkadir 19 Jahre alt und sitzt in einer Wohnung des Antoniusheims am Bismarckring, um seine Geschichte zu erzählen. Auf Deutsch. Er trägt bunte Turnschuhe, dunkle Jeans, ein gebügeltes Hemd. „Ich versuche, die schrecklichen Dinge zu vergessen", sagt er. „Ich will hier in Deutschland ein neues Leben anfangen."
Ein Land, von dem er bis zu seiner Flucht nur drei Fußballer kannte: Michael Ballack, Lukas Podolski und Miroslav Klose. Abdulkadir lebte in einem Dorf, 30 Kilometer entfernt von der somalischen Hauptstadt Mogadischu, in einem Land, in dem seit Jahren Bürgerkrieg herrscht. Eines Tages standen Al-Shabaab-Milizen vor der Haustür seiner Eltern, wollten ihn als Soldaten mitnehmen und seine Schwester verheiraten. Sofort kratzte die Familie all ihr Geld zusammen, setzte die Kinder in ein Auto. 15 Tage durch die Sahara nach Libyen. Dort sechs Monate Gefängnis, weil sie keine Papiere mit sich trugen. „Wir schliefen auf dem Boden, bekamen eine Scheibe Brot am Tag, konnten uns nicht waschen."
Damals herrscht noch Gaddafi in Libyen, Krieg bricht aus. Nachdem Abdulkadir aus dem Gefängnis kommt, wohnt er ein halbes Jahr in Tripolis und ist doch wieder gefangen, weil er wegen der Bomben sein Zimmer nicht verlassen kann. Er teilt sich zehn Quadratmeter mit drei anderen Flüchtlingen.
Hauptsache weg vom Krieg900 Euro kostet die Überfahrt nach Italien. Als das Schlauchboot in Tripolis ablegt, weiß Abdulkadir nicht, wo es hinfährt. Egal. Hauptsache weg vom Krieg. Von Neapel aus geht es im Oktober 2012 mit dem Bus nach Frankfurt, wo ihn die Arbeiterwohlfahrt aufnimmt. Er bekommt eine Brezel, Klamotten und eine Zahnbürste. Im Januar 2013 kommt er in Wiesbaden an. Im Flüchtlingsheim erhält Abdulkadir ein eigenes Zimmer, zum ersten Mal in seinem Leben. Nach eineinhalb Jahren Flucht kann er seine Mutter anrufen, um ihr zu sagen, dass er lebt.
„Deutschland gibt mir jeden Tag neue Kraft", sagt er. „Hier respektieren die Menschen einander." Abdulkadir freut sich über Dinge, die für Europäer selbstverständlich sind. „Zur Schule zu gehen, Musik zu hören oder zu sagen, was man denkt, wäre in Somalia unmöglich." Er ist fleißig, lernt die Sprache und macht einen qualifizierten Hauptschulabschluss. In Deutsch, Englisch und Mathe hat Abdulkadir eine 2. Als er 18 wird, muss er aus der Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ausziehen, so sind die Regeln.
Fester Job gesuchtNun wohnt er mit einem Kumpel in einer WG, spielt Fußball und entdeckt Wiesbaden. Mit etwa 270 Euro Taschengeld vom Jugendamt. Abdulkadir ist im laufenden Asylverfahren, wartet wegen der Überlastung der zuständigen Behörden seit seiner Ankunft auf ein Gespräch. Bis dahin wird seine Aufenthaltsgenehmigung alle sechs Monate verlängert, die aktuelle läuft im September aus. Ein fester Job würde ihm helfen.
Daher steht Abdulkadir jeden Tag um sieben Uhr auf, um im Internet nach neuen Stellenanzeigen zu suchen. „Am allerwichtigsten wäre für mich, einen Beruf zu haben." Abdulkadir träumt von einer Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker, hat sich mehrfach beworben. „Doch es kamen bisher nur Absagen oder gar keine Rückmeldung." Er will unbedingt arbeiten und seine Familie in Somalia unterstützen. Sie nach Deutschland zu holen, erscheint ihm zu gefährlich. Abdulkadir weiß, wie gefährlich so eine Flucht ist.
Text: Max Sprick
Foto: Erdal Aslan
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