TEXT MAX SPRICK FOTOS ELIAS HASSOS
Die Zugspitze ist deutscher Mythos. Dach der Republik, Sehnsuchtsziel für Touristen. Eine neue Bahn bringt noch mehr von ihnen hoch. Was macht der Mensch mit dem Berg? Und was macht der Berg mit den Menschen?
Toni Zwinger sitzt die Vergangenheit im Nacken. Aus den alten Fotografien an der holzvertäfelten Wand hinter ihm blicken und lächeln jene Männer, die den Mythos Zugspitze erschaffen haben. Männer, die mit viel Schweiß und Mut Deutschlands höchsten Berg bestiegen haben. Männer, die ihr Leben an diesem Klotz ließen, damit ihn Nachfolgende erleben können. Tonis Urgroßvater, Anselm Barth, den sie den „Zugspitzvater" nannten, war einer von ihnen. Gerade erst sechs Jahre hatte er das Münchner Haus am Berg geführt, ehe ihm eines Nachts, so besagt es die Legende, ein Engel erschien, um Anselm an einen noch schöneren Ort zu geleiten. „Drum hat man ihn 700 Meter unten, den Leib zerschlagen und zerschunden, mit tiefen Todeswunden dort, wo der Engel stand, gefunden." So wurde Anselm bedichtet, 1931 war das. 86 Jahre später sitzt Toni Zwinger ein paar Meter entfernt vom höchsten Gipfel Deutschlands in der Gaststube des Münchner Hauses, das ihm irgendwie gehört, aber noch nicht so ganz. Seit Anselms Tod hat sich hier wenig geändert. Fotos, Wimpel und Blechteller sind noch dieselben, nur die Ölöfen wurden ausgetauscht. In Zwingers Gesicht ist alles dunkel - Bart, Brauen, Augen, das gescheitelte Haar. Sommers wohnt er in einer Hütte am Berg. Und nur am Donnerstag, seinem freien Tag, fährt er hinunter. In einem Urbayerisch, das sich unmöglich verschriftlichen lässt, sagt er: „Ich bin der einzige Mensch, der sein ganzes Leben auf der Zugspitze verbracht hat." Freilich, für die Schulzeit habe er zu seinen Großeltern ins Tal gemusst. „Aber am Wochenende war ich immer oben!"
Und sieht: ganz unten Waldgrün ...
© Elias Hassos
... dann die Schneepilger ...
© Elias Hassos
Dieses Oben, das Toni Zwinger meint und wie einen Schatz hütet, teilt er längst mit vielen anderen. Der Andrang auf die Zugspitze ist gewaltig. Mittlerweile kommen bis zu 5000 Touristen am Tag, im Jahr mehr als eine halbe Million. Immer mehr arabische und asiatische Besucher sind darunter, die mit eigenen Augen sehen wollen, was bei ihnen zu Hause als Top of Germany vermarktet wird. Und natürlich sind sie alle auf der Suche. Mindestens nach dem idealen Selfie. Aber auch nach Glück. Nach Erinnerungen, nach einem Andenken, vielleicht gar nach Transzendenz. Sie alle wollen etwas mitnehmen. Aber wenn alle etwas mitnehmen, was bleibt dann zurück?
Vielleicht ist das die Aufgabe der Zugspitze: andere Gipfel vor den Menschenmassen zu bewahrenBergsteiger suchen die grenzenlose Freiheit über den Wolken. Von dieser Freiheit gibt es auf der Zugspitze, 2962,06 Meter über NHN (Normalhöhennull), so viel wie nirgends sonst in der Republik. Bei gutem Wetter blickt man südwärts bis Italien, in nördlicher Richtung weit über München hinaus, man sieht rund 400 andere Alpengipfel. Einerseits. Aber am frühen Nachmittag ist es, andererseits, vorbei mit der Freiheit, dann stößt man an ihre Grenzen. Vom Band kommt die Ansage, die Seilbahn ins Tal sei leider überfüllt, man möge sich gedulden. Oft bis zu zwei Stunden. Dann stehen die Massen einander auf den Füßen. Schwitzen trotz Kälte, und durch das Selfie läuft die nächste Reisegruppe. „Die Zugspitze ist der touristischste Berg überhaupt im Alpenraum", stellt Thomas Bucher vom Deutschen Alpenverein ohne Bedauern fest. Er findet es in Ordnung, dass der deutsche Gipfel streng genommen gar keiner mehr ist, sondern eine Ansammlung diverser Gebäude. Nur das goldene Gipfelkreuz steht noch frei. „Alles konzentriert sich auf die Zugspitze, dafür bleiben andere Berge vom Massenandrang verschont", sagt Bucher. Das klingt natürlich sehr pragmatisch. Geht es nicht etwas romantischer? Was macht der Mensch mit der Zugspitze? Und was macht die Zugspitze mit den Menschen?
Spitze speisen? Ist möglich, entweder im Gletscherrestaurant Sonnalpin 362 Meter unterm Gipfel ...
© Elias Hassos
„Es gibt nichts Magischeres, als allein hier oben zu stehen, wenn die Sonne aufgeht", sagt Toni Zwinger. Niemals wird ihm dieser Anblick langweilig werden. Er führt das Vermächtnis des Zugspitzvaters weiter, er soll der nächste Wirt werden im Münchner Haus. Schon vor drei Jahren hätte er es von seinem Vater übernehmen sollen, der es seinerzeit von seinem Bruder übernahm, der es einst von ihrem Vater Anselm Junior übernommen hatte, dem Sohn des verunglückten Anselm. Aber noch kann der Papa nicht loslassen. Zwinger zeigt zur Terrasse, wo sich Hunderte drängeln. „Solange wir genug Würste und Bier haben, können gern noch mehr Leute kommen", sagt er.
Und es werden noch mehr Leute kommen. Vom Münchner Haus sind es nur ein paar Schritte, dann türmt sich das jüngste Wunderbauwerk auf: die Gipfelstation der neuen Seilbahn Zugspitze. Ein mehrstöckiger Klotz mit Restaurant und einer Panoramaterrasse, von der das Gipfelkreuz zum Greifen nah erscheint. Ab dem 21. Dezember wird hier die neue Bahn ankommen und endlich die Wartezeiten reduzieren, das jedenfalls ist der Plan. Eine Seilbahn, die mit 3213 Metern das weltweit längste freie Spannfeld überbrückt, ein schwebender Superlativ. Mit ihr sollen täglich noch mal zehn Prozent mehr Gäste als bisher auf den Gipfel gelangen.
An der Talstation, die am Eibsee liegt und zur Ortschaft Grainau gehört, wurde 1963 die Eibsee-Seilbahn eröffnet. „Schon fünf Jahre später wusste man, dass ihre Kapazität zu gering ist", sagt Bernhard Thoma, der zur Betriebsleitung gehört. Er arbeitet seit 25 Jahren als Maschinist bei der Seilbahn, stammt aus Grainau, ist mit Berg und Bahn aufgewachsen. Ein Traditionalist, der das Massiv in die Moderne führen soll. Sorgt er sich? Wenigstens ein bisschen? Wann, ja mei, wird aus viel Publikum zu viel Publikum? Thoma, in schwarzer Funktionskleidung, aus der nur sein roter Schnauzer leuchtet, blickt auf die größte Seilbahnstütze der Welt, 127 Meter hoch, und sagt: „Es macht mich stolz, dass die ganze Welt bei uns vorbeischaut. Die gesamte Region lebt von dem Berg. Die Zugspitze ist unsere Zukunft."
Ohne den Berg, sagt Thoma, gäbe es für die Leute im Tal nichts zu tun. So aber bewirten sie nicht nur die Alpinisten und Hobbybergsteiger, sondern auch all die Medizintouristen, die sich für Untersuchungen und Behandlungen in die Pensionen von Garmisch-Partenkirchen einbuchen. Thoma denkt einen Moment nach und kommt zu dem Schluss, dass es ihm lieber ist, wenn dieser eine, ohnehin verbaute Berg weiter erschlossen wird. „Wir haben hier ja noch so viele andere schöne Gipfel, die kaum ein Tourist kennt. Das darf gern so bleiben." Da ist sich Thoma also mit dem Alpenverein durchaus einig.
Die neue Seilbahn Zugspitze wurde auf der Trasse der alten Eibsee-Seilbahn gebaut, sie ist in den vergangenen drei Jahren bei laufendem Betrieb entstanden. Parallel zu ihr rattert die alte Zahnradbahn zum Gipfel. Martin Hurm fährt gern damit, es geht fast zur Gänze durch einen Tunnel, und sein Handy schweigt dann, kein Empfang. Hurm ist Projektleiter der neuen Seilbahn, seit 2011 hat er viel Zeit mit ihrem Bau verbracht. „Jetzt kriege ich zu Weihnachten ein 50 Millionen Euro teures Geschenk", sagt er. „Nur dass ich es mir selbst bauen muss, davor hat mich niemand gewarnt." Wetter, Höhe und Logistik waren die größten Herausforderungen bei der Konstruktion. Mit einem Helikopter wurde ein Kran auf den Gipfel geflogen, der dadurch, logisch, zum höchsten Kran des Landes wurde. Es ist paradox: Hurm kann die Kapazitäten der neuen Bahn referieren, doch am Ende des Gesprächs sagt er: „Wir wollen hier nicht unendliche Massen raufbringen oder in den Himmel bauen. Wir wollen unseren Gästen ein zeitgemäßes Erlebnis bieten."
Die Massen aber sind längst da. Und ihr Erlebnis beginnt, wenn sich die Zahnradbahn aus dem Tunnel schiebt. Dann zücken sie reflexartig ihre Smartphones, fokussieren in alle Himmelsrichtungen. Mit der Zugspitze verhält es sich ja so: Wer unten steht und hochschaut, sieht nur Fels, brutal, schroff und grau, und vielleicht eine weiße Ahnung an der Spitze. Dieser Berg ruft nicht. Nicht von unten. Oder er ruft: Geh weg, Mensch, lass mich in Ruhe, du hast hier nichts verloren! Aber wenn man erst oben steht und runterschaut, wird einem klar: Einen Berg besteigt man nicht, um seinen Gipfel zu erreichen, und diesen erst recht nicht, oder jedenfalls nicht nur. Man besteigt ihn, um sich über das eigene Leben zu beugen, das plötzlich klein und einfach vor einem liegt. Zugspitze bedeutet Klarheit. Vermittelt Klarheit. Das kann sie. Immer noch. Auch im Gewimmel - wenn man das richtige Schuhwerk dabeihat. Dieser Berg ruft nun doch, von oben herunter. Freiheit, ruft er.
Oben steht Franco Lopez, Mexikaner, in kurzer Hose, neben ihm seine Freundin, Barbara Jankowiak, Polin, mit dünnen, nassen Turnschuhen. „Wir haben nicht gewusst, dass es hier schneit", sagt sie. „Wir sind hier, weil wir gehört haben, wie schön es sein soll", sagt er. Klar, in Mexiko gebe es höhere Gipfel, aber dahin fahre eben keine Bahn. So antworten viele, die man fragt. Die Touristen bestaunen den Berg, aber fast noch mehr bestaunen sie, wie sich die Deutschen diesen Berg untertan gemacht haben. Ein Japaner schießt ein Selfie mit Schneemann. Vollverschleierte Damen aus dem arabischen Raum rutschen lachend im Pulverweiß aus. Wahnsinn als Normalität, 47 Grad nördliche, 10 Grad östliche Breite, Dach der Republik.
Frostiges Lächeln: Der Schneemann muss oft für Selfies posen
© Elias Hassos
Rudi Müller wohnt und klettert seit 30 Jahren an der Zugspitze. Weil er nach einem Lehramtsstudium keine Anstellung fand, gründete er mit einem Partner eine Alpinschule. Müller sagt: „Der Mythos der Zugspitze ist längst vergangen." Zumindest wenn man da oben, im Gedränge am Gipfel, also im schieren Wahnsinn stehe. „Da geht's ja zu wie am Stachus in München", findet er. Müller klettert lieber die Flanken hinauf. Er ist ein Gipfelstürmer, der den Gipfel meidet. Zu schockierend sei der Kontrast, wenn man stundenlang aufsteige, die Einsamkeit und Einkehr des Bergsteigens erlebe und dann, oben angelangt, in einem Pulk Menschen verschwinde. Er weiß aber auch, dass er sich nicht viel Kritik erlauben kann. Er lebt ja schließlich von dem Berg, mit dem er hadert. Seine Touren durch das Höllental, den Jubiläumsgrat oder die Partnachklamm sind gut gebucht. „Bergsteigen boomt", weiß Müller. Daher sei es nur logisch, dass auch immer mehr Menschen Deutschlands höchsten Punkt erklettern wollen.
Doch wann ist die Spitze der Entwicklung erreicht, wann die Entwicklung der Spitze beendet? Ruft irgendwann der Berg um Hilfe? So viele Fragen. Man möchte den starr dreinschauenden Anselm von der holzvertäfelten Wand im Münchner Haus nehmen, ihn ein wenig schütteln, aus seiner ewigen Ruhe reißen und fragen, was er, bittschön, von alldem hält. „In des Himmels hohen Hallen, hat's dem Anselm so gefallen, dass er, vom Schau'n ganz eingenommen, vergessen hat aufs Wiederkommen" - so geht die gereimte Legende weiter. Der altehrwürdige Zugspitzvater, er hat die grenzenlose Freiheit des Himmels erreicht. Sie sei ihm gegönnt.
Toni Zwinger glaubt, dass er bald mehr Freiheit hat, bald die Leitung im Münchner Haus übernimmt. Den Vater plagen gesundheitliche Probleme. Will er etwas verändern? „Vielleicht setzen wir ein neues Gericht auf die Karte." Aber dann verliert der Toni doch noch die Ruhe. Vor einiger Zeit haben ihm die Leute vom Alpenverein, deren Pächter er als Wirt sein wird, ihre Zukunftspläne dargelegt. Dazu gehört, dass das Münchner Haus in 15 Jahren abgerissen und durch eine modernere Hütte ersetzt werden könnte. „Wenn das passiert", sagt Toni Zwinger, Anselms Erbe, „verlasse ich den Berg." Dann wäre der Mythos seiner Vorfahren dahin.
Majestätische Aussicht: Blick vom Südhang der Zugspitze in Richtung Südtirol 1 Mittlere Plattspitze 2674 m | 2 Mieminger Gebirge | 3 Tiroler Wildspitze 3768 m | 4 Wetterwandeck 2698 m | 5 Ortler 3905 m | 6 Mittlere Wetterspitze 2750 m | 7 Schneefernerkopf 2875 m | 8 Sessellift Schneefernerkopf | 9 Sessellift Weißes Tal | 10 Schneeferner-Gletscher | 11 Gletschrrestaurant Sonnalpin 2600 m
© Elias Hassos
Hoch hinaus
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ZUM ZIEL
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