Studierende galten mal als Revolutionäre, heute ist es still um uns geworden. An den Universitäten verschwindet eine Lebensform. Und das liegt ausnahmsweise nicht an Corona.
Als ich nach der Schule anfing zu studieren, hoffte ich, Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens zu finden. Denn dafür, so hatte ich das bei meinen 68er-Eltern verstanden, war die Universität da. Wer bin ich? Was erfüllt mich? Wie will ich einmal leben? Irgendwo zwischen klugen Köpfen, wilden Feten und freien Gedanken würde ich herausfinden, was wirklich wichtig ist. Darauf habe ich mich verlassen.
Seit sechs Jahren studiere ich jetzt. Kommunikationsgedöns im Bachelor, digitales Kommunikationsgedöns im Master. Doch weder mit 19 noch mit 25 Jahren habe ich die Universität als einen Ort für die wirklich großen Fragen kennengelernt.
"Die entscheidenden Antworten hat mir die Universität nicht gegeben."
Es ist nicht so, dass ich gar nichts gelernt hätte. Ich weiß nun, wie ingressive glottale Laute artikuliert werden und was "das Katzenklo sauber machen" auf Niederländisch heißt. Bloß die entscheidenden Antworten, die hat mir die Universität nicht gegeben. Liegt es an mir? Habe ich zu wenig danach gesucht? Vielleicht. Aber ich bin überzeugt: Es liegt auch daran,
dass Studieren zum Karriereschritt geworden ist - nur ein weiterer Punkt auf dem Lebenslauf.
1968 ist lange her
Wenn ich dem glaube, was meine Eltern mir von ihrer Studienzeit erzählt haben, so ging es damals um nicht weniger als Weltveränderung. Aufbruchstimmung schwebte durch die Hörsäle der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre. Die Studierenden sahen sich als Avantgarde - entgegen ihren Eltern, dem Schweigen über die NS-Zeit und den verkrusteten Strukturen im Land und an den Universitäten. Sie meinten, den politischen Diskurs bestimmen zu können. Oder gar zu müssen.
Jobmessen und Leistungspunkte
Schau ich mich heute an meiner Uni um, ist von Revolution nicht viel zu spüren. Stattdessen geht es um Leistungspunkte und Lebensläufe, um Praktika, Jobs und Recruiting-Messen. Ich saß in vielen Seminaren, in denen Gewinne maximiert und Risiken minimiert wurden. Um Weltveränderung ging es nie. Und selbst wenn, dann war die wichtigste Frage: Ist das klausurrelevant?
Wer sich fragt, warum man überhaupt studieren sollte, landet bald bei Wilhelm von Humboldt. Vor 200 Jahren entwickelte der eine Bildungstheorie, die bis heute zentral ist für das Selbstverständnis vieler deutscher Hochschulen. Sie postuliert beispielsweise die Einheit von Forschung und Lehre oder die Unabhängigkeit der Wissenschaft. Über all dem steht die Idee einer niemals abzuschließenden Suche nach der Wahrheit.
Für die meisten Studierenden zumindest ist das inzwischen längst nicht mehr der Kern des Studierens. Stattdessen geht es um eine niemals abzuschließende Qualitäts- und Effizienzsteigerung. Der Neoliberalismus, dessen höchstes Gut das Wohlergehen der Wirtschaft ist, hat sich längst auch das Studium einverleibt.
Dass es in erster Linie um das Individuum und seine Verwertbarkeit für die Arbeitswelt geht, zeigt sich an den Unis so: Durch Bologna-Reform, Anwesenheitspflicht, Modulstruktur und Arbeitsmarktorientierung verschwand die akademische Freiheit, Studierende wurden diszipliniert. "Man schuf eine Schmiede für Fachpersonal", sagt etwa der Politologe Wolfgang Kraushaar. Er ist 1948 geboren und gilt als Chronist der 68er-Bewegung. "Mit der europaweiten Vereinheitlichung von Studiengängen und der Umstellung auf Bachelor-Master-Abschlüsse fand eine starke Verschulung der Universitäten statt. Die Innensteuerung wurde durch Außensteuerung ersetzt."
Soll heißen: Die auferlegten Strukturen verschluckten die natürliche Wissenslust der Studierenden. Für Sinnfindung oder gar Revolution ist an der Uni kein Platz mehr.
"Das Studieren ist stattdessen eine trocken-bürokratische Vorstufe zur Arbeitswelt geworden", sagt Kraushaar. Ein Karriereschritt, rein ökonomisch. Auch Forschung und Lehre müssten nun mal marktfähig sein. Hochschulen müssen sich finanzieren, Studierende anlocken und Forschungsgelder binden. Und das geht am besten, wenn sie bieten, was gefragt ist.
Aber was ist daran eigentlich so schlimm?
Wenn Universitäten nicht mehr bilden, sondern ausbilden, mag das zwar topgeformte Spezialkräfte hervorbringen. Auf der Strecke bleiben jedoch die, die auf dem Weg noch etwas anderes lernen wollten. Die sich noch keinen Plan zurechtgelegt hatten, wie sie nach dem Studium leben und arbeiten wollen, sondern sich an der Universität auf Antwortsuche begeben wollten.
Humboldt stellte sich vor, dass Universitäten autonome und allgemein gebildete Individuen entwickeln. Und er vertraute darauf, dass sich die Studierenden dieses Ziel selbst setzen.
Der Neoliberalismus hingegen ist misstrauisch. Um Verwertbarkeit sicherzustellen, braucht es Beweise, es braucht Prüfungen, Evaluationen, Zahlen. Haben möglichst viele Absolventinnen einen Einserschnitt, hat die Hochschule ihren Zweck erfüllt.
"Bildung ist nicht in messbaren Lerneinheiten erreichbar."
Um den Ursprungsgedanken von Bildung geht es dabei längst nicht mehr, sagt auch die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, die an der Ruhr-Universität Bochum Ethik und Ästhetik lehrt. "Bildung ist eine Erweiterung des Denkspielraums, der die gesamte Person umfasst. Das ist nicht in messbaren Lerneinheiten erreichbar." Presst man Bildung also in die Gestalt von Leistung und Wettbewerb, nimmt man ihr eine wichtige Eigenschaft: die Grenzenlosigkeit. Und damit auch die Möglichkeit, in einem Studium mehr zu sehen als das Abarbeiten eines Modulplans.
Wir Studierenden sind zu Reagierenden geworden, politisch höchstens in der Theorie. Die Welt verändern andere. Gut 60 Prozent der Protestierenden, die freitags für das Klima auf die Straße gingen, waren 2019 zwischen 14 und 19 Jahre alt. Nur 17 Prozent waren 20 bis 25 Jahre alt, 11 Prozent 26 bis 35. Potenzielle Studierende also klar in der Unterzahl. Dabei haben die im Zweifel freitagvormittags frei.
Doch was soll ich sagen? Auch ich demonstriere freitags nicht für eine bessere Welt. Ich habe mich nie gegen das Hochschulsystem aufgelehnt. Man könnte sagen, ich habe resigniert. Das Kollektivgefühl wollte nie so recht eintreten, eher ließ ich mich von der Lethargie meiner Mitstudierenden anstecken. Am Ende ging es auch für mich mehr um Abgabefristen und Modulabschlüsse denn um ein Bildungserlebnis. Die Coronakrise hat dazu ihr Übriges getan. Allein zu Hause am Laptop zu kleben, beflügelt nicht gerade den Humboldt in mir.
Ich wünsche mir deshalb, dass nach dem Shutdown mit den Studierenden auch der Zauber von Bildung und Lehre an die Universitäten zurückkehrt. Dass wir begreifen, was für ein unschätzbares Privileg es ist zu lernen, all die Zeit, Ressourcen und klugen Menschen um uns zu haben. Dass wir uns nicht so sehr an Verbindlichkeiten wie Bewertungssysteme ketten.
Und wer weiß, vielleicht schaffen wir ja doch noch eine kleine Revolte. Mir würde das passen, Revolution fehlt noch auf meinem Lebenslauf.
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