Die Küche ist der Ort, an dem mein Tag beginnt und endet, wo Partys starten, wir lieben und streiten. Vielleicht ist sie sogar der Ursprung der Menschheitsgeschichte.
Ich sitze an unserem Ikea-Tisch in der Küche, darauf steht nicht mehr als ein Aschenbecher, daneben zwei Stühle, einer davon schwer marode. Während ein Radio sich rauschend auf Frequenzsuche begibt, köchelt auf dem Campingkocher der Kaffee. Der Kühlschrank ist gefüllt mit Bier, sonst ist da nichts. Ein Schweizer Taschenmesser und ein Stapel Pappteller komplettieren das Küchenequipment. Nur woraus schlürfe ich jetzt meinen Kaffee?
An jenem Morgen gegen 9 Uhr in meiner ersten eigenen Küche in meiner ersten eigenen WG mit meinem ersten eigenen Ikea-Tisch habe ich ein Gefühl entwickelt, das ich seinerzeit zunächst nicht für möglich gehalten hatte: Diese Küche hat sich nach zu Hause angefühlt - weit weg von meiner Heimat.
Das darf als verklärte Romantisierung gesehen werden. Und wenn man es nicht für nötig hält, muss man aus diesem Ort auch nicht mehr machen als der Duden[LF1] : "Raum zum Kochen, Backen, Zubereiten der Speisen". Ein Ort eben, der seiner Funktion nachkommt, wie es das Bad, das Schlafzimmer, die Abstellkammer und der Keller genauso vermögen.
Doch ihre funktionelle Beschaffenheit allein macht die Küche nicht aus, ihr Wert geht weit darüber hinaus. In ihr lässt sich vielmehr das ganze Leben komprimieren: Neben Konserven, Obst und Wasserkisten werden Geschichten und Erinnerungen in den Küchen dieser Welt aufbewahrt. Dort, wo der Tag mit dem ersten Kaffee beginnt, bis spät in die Nacht zusammen gesessen wird, wo gesoffen, geraucht, gefeiert, diskutiert, verkündet, beschlossen und gestritten wird.
Die Küche ist ein Hybrid-Raum: So wie mittlerweile im Schlafzimmerbett gefrühstückt und im Wohnzimmer gearbeitet wird, wird in der Küche gelebt. Kein anderer Raum innerhalb der eigenen vier Wände bildet das Zentrum der eigenen Welt so adäquat ab wie die Küche es schafft.
Betrachten wir es plakativ, verkörpert die Küche den Ursprung des Menschseins: Hier begegnen sich Feuer und Wasser. Als unsere Vorfahren vor fast zwei Millionen Jahren das Feuer entdeckten und es zu nutzen wussten, beginne die Geschichte unserer Menschheit, schrieb der in England geborene Anthropologe Richard Wrangham in seinem 2009 erschienenen Buch "Feuer fangen". Dass plötzlich Fleisch gebraten werden konnte, rohe Nahrung genießbar war, Keime abgetötet und Giftstoffe zerstört werden konnten, macht der Harvard-Forscher als entscheidenden Evolutionsschritt unserer Spezies aus.
Wrangham geht davon aus, dass der wesentliche Anwuchs des menschlichen Gehirns durch das Erlernen des Kochens begründet ist. Seine Rechnung geht wie folgt: Nehmen wir gegartes Essen zu uns, ist das Maß an Energiezufuhr höher, das Gehirn wird besser versorgt und wir müssen weniger essen, um die gewünschte Kalorienzahl zu erreichen. Dadurch können wir schneller verdauen und gewinnen so an Zeit und Kraft.
Richard Wranghams Gedankenspiel ist plausibel, trotzdem steht er mit seiner Theorie relativ exklusiv da. Kritiker bemängeln[NM3] , es gebe keine Beweise, die die Kochen-Hirnwuchs-Relation bestätigen. Viele Forscher datieren die Kontrolle des Feuers auf einen jüngeren Zeitpunkt als Wrangham.
Unumstritten hingegen ist die Tatsache, dass das Feuer einen entscheidenden Nebeneffekt hatte: Durch Licht, Wärme und Schutz hat es den Tag unserer Vorfahren verlängert. So entstand um das Feuer herum ein Versammlungsort und damit wohl eines der ersten Zentren sozialen Lebens.
"Das Feuer zieht uns Menschen seitdem magisch an. Dieses Ur-Bedürfnis des Beschütztseins und Versorgtseins wirkt noch immer in uns", sagt Uwe Linke[LF4]. Er ist Experte für Wohnpsychologie, berät Architekten und Möbelhäuser, ist Paartherapeut und Buchautor. 2010 erschien sein Buch "Die Psychologie des Wohnens", in dem er die Lebensraumgestaltung des Menschen analysiert. In jeder Gesellschaft, in jeder sozialen Schicht gebe es einen Ort, der als Küche - "meist die Seele der Wohnung" - bezeichnet wird, sagt er.
Seit jeher spiegelt die Küche gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen wider. Sie steht in einem ewigen Wettkampf mit dem Wohnzimmer - um den Mittelpunkt der Wohnung.
Lange Zeit galt Kochen als notwendiges Übel, die Küche als Ort, der der Hausfrau zustand oder in dem das Küchenpersonal arbeitete, nicht aber als Gemeinschaftsraum. Zum Leben gab es das Wohnzimmer. Dort heizte früher die Feuerstelle, später flimmerte der Fernseher. Beides ist heute nicht mehr en vogue. Der klassische Wohnzimmerzweck verpufft.
Das Kochen hingegen ist gesellschaftlich relevant wie nie zuvor. "Menschen grenzen ihren sozialen Status mehr durch die Art der Ernährung ab, als durch andere Verhaltensmuster", sagt Wohnexperte Linke. Und so erfuhr die soziale Funktion der Küche eine Renaissance: "Seit den Siebzigerjahren ist die Wohnküche in den Grundrissen deutscher Wohnungen mit inbegriffen." Sie macht das Wohnzimmer zu Teilen überflüssig.
Oder wie der Architekt und Dozent der Technischen Hochschule Zürich Arno Brandlhuber[LF5] es formulierte: "Weg mit dem Wohnzimmer! Das braucht man nicht. Schon das Wort - Wohnzimmer. Darf man in allen anderen Zimmern nicht wohnen?"
Die Kommandobrücke des Zusammenlebens
Befindet sich das Wohnzimmer in einer wahren Existenzfrage, könnte es in den Küchen dieser Welt kaum vitaler zugehen. Sie ist die Kommandobrücke eines jeden Zusammenlebens: Am Kühlschrank hängt der Stundenplan, die Einkaufsliste, der Putzplan und die To-Do-Liste. Hier sprechen wir Probleme an und reden, wenn wir reden wollen. "Denn wer in die Küche geht, der sucht den Kontakt, nicht die Einsamkeit", sagt Linke. "Die Küche ist meist der letzte Ort, an den wir uns begeben, ehe wir uns zurückziehen."
Als entscheidenden Faktor sieht der Experte den provisorischen Charakter der Küche: Dieser steht ganz im Gegensatz zum Wohnzimmer, das zum Verweilen einlädt. Denn eine Küche sei quasi banal. Das meint, Gespräche haben dort weniger Brisanz als in eindeutig zugeordneten Räumen. Wir sagen Dinge zwischen Tür und Angel, im Affekt, häufig unvorbereitet. Das macht die Worte nicht unumstößlich.
"Nennt der Mann etwa seine Frau in der Küche bei falschem Namen, ist der Ausschlag nicht so hoch, wie, wenn dieser Fauxpas im Schlafzimmer geschieht", sagt Linke. Dem Schlafzimmer ist eine viel explizitere Rolle zugesprochen, die Küche hingegen besitzt nicht die Intimität eines Schlaf- oder Badezimmers.
Was im bürgerlichen Milieu vor nicht allzu langer Zeit noch der VW-Touareg in der Einfahrt, später dann der Flatscreen samt Sofalandschaft war, ist heute die grifflose Kochinsel, die Anschlagdämmung an der Edelstahl-Zeile und der Induktionsherd mit Muldenlüftungstechnik.
Neues Vokabular, neue Stile, neue Philosophien: Das ist alles nicht unbekannt in der Historie der Küche. Früher oder später werden wohl Smart-Kitchen-Technologien dominieren, die uns das Kochen mehr und mehr abnehmen. Linke sieht die Zukunft des Kochens vor allem in Convenience Food, also vorbereiteten Lebensmitteln, die schnell aufgetischt sind. Der übersteigenden, sozialen Rolle der Küche werde das aber keinen Abbruch tun: "Vielmehr wird die Küche immer an erster Stelle der Wohnung stehen." Um die Ur-Bedürfnisse des Menschen zu stillen, braucht es nun einmal einen Ort. Gewissermaßen den Ur-Ort.
Fünf Jahre später hat meine Küche übrigens auch nicht mehr viel mit meiner eingangs skizzierten zu tun: Der Kühlschrank ist schon länger nicht mehr bis oben mit Bier gefüllt worden. Mitunter ist das alkoholhaltigste Produkt gar irgendein Weinessig oder die Zwetschgenkonfitüre. Der billige Ikea-Tisch steht nicht mehr da, zwei moderne Barhocker haben die ollen Holzstühle ersetzt, das Radio hat irgendwann vergebens seine Frequenzen gesucht und wurde von einem Surround-Sound-System verdrängt, der Campingkocher musste einem Cerankochfeld weichen und auch mein Geschirr ist nicht von Pappe.
Meine Küche ist, wie ich, erwachsener geworden. Und dennoch: Ich würde sie jederzeit wieder eintauschen gegen die erste. Meine persönliche Ur-Küche.
Gut, aber auch eher des Gefühls wegen.
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