Ähnliche Bilder filmt Thomas Kraus in seinen Videos. Er stellt sie auf Youtube und bietet sie Privatsendern an.
(Foto: dpa)Von Nico Horn und Max Gilbert
Er zoomt näher ran, gleich hat er den Mann unterm Bus im Bild. Von der Front schwenkt er zum Ende des rot-weißen Linienbusses. Zoom. Neben dem Reifen links hinten liegt der Mann unter hellblauer Plane. Davor stehen zwei Polizisten, neben ihnen liegt ein Fahrrad. Der Mann ist tot. Thomas Kraus hat das Video. Sobald er es im Netz gepostet hat, wird es wieder kritische Kommentare geben. "Du bist eine Schande", wird noch einer der freundlicheren sein. Kraus' Antwort: "Erfolg ist keine Schande." Er findet, dass er den Mann filmen musste. "Ich hätte sonst gar nicht dokumentieren können, wie der Bus nach dem Unfall stand." Der Bus wäre umgesetzt worden, "bevor die Leiche rausgezogen wurde".
Kraus, 30, filmt Einsätze von Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften. Dass man mit solchen Aufnahmen Geld verdienen kann, merkte er bei einem der tragischsten Unglücke der letzten Jahre, der Loveparade in Duisburg 2010. Als die Massenpanik ausbrach, war er zufällig vor Ort, erzählt er heute. Seine Amateuraufnahmen aus dem Tunnel liefen im Fernsehen rauf und runter. Damals kam die Katastrophe zu ihm. Seitdem ist er als Einsatzfilmer auf der Suche nach ähnlichen Bildern.
Erst am Dienstagabend wurde die Debatte um den Umgang mit Schaulustigen an Unfallstellen durch ein Video befeuert, das in kürzester Zeit viral ging: Ein Einsatzleiter der Verkehrspolizei Feucht stellt in dem Video einen Mann mit einer Kamera nach einem tödlichen Verkehrsunfall auf der A6 zur Rede. Die Reaktion des Beamten wird im Netz gefeiert.
Der Unfall am Dienstag hätte wohl auch vor der Kamera von Thomas Kraus landen können. Er filmt alles, was er von seiner Wohnung in Bonn schnell erreichen kann: Unfallstellen, Brände, Razzien. Auf seinem Youtube-Kanal "Einsatzfahrten und so" lädt er die Videos hoch. An manchen Tagen liefert er gleich mehrere Filme, mittlerweile sind es mehr als 6000.
Minutenschnell lassen sich mehr als 20 000 Videos findenDen Mann unter dem Bus hat er gut vorm Objektiv, bis die Feuerwehr einen Pavillon mit blickdichten Wänden aufstellt. Die Einsatzkräfte wollen nicht, dass jemand die Bergung beobachtet, Kraus zoomt weg. Wenig später filmt er den Leichenwagen. Bei vielen Einsätzen, die er aufnimmt, filmt er Verletzte, Tote. Auf Videoplattformen gibt es zahlreiche Kanäle wie seinen. Minutenschnell lassen sich auf Youtube gut 30 Kanäle mit mehr als 20 000 Videos finden. Die erfolgreichsten Filme haben mehrere Millionen Klicks.
Die Betreiber sagen, sie sorgten so für neutrale Unfallberichterstattung. Andere finden, das bediene die Sensationsgier von Millionen Zuschauern im Netz. "Das ist verantwortungslos", sagt Matthias Rath, Leiter der Forschungsgruppe Medienethik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. "Durch die Filme wird der Akt des Gaffens dauerhaft festgehalten." Das könne zu einer Abstumpfung gegenüber menschlichen Schicksalen führen. Dass dieses Risiko real ist, zeigt sich in den Kommentarspalten der Youtube-Videos.
"So wie alle heutzutage fahren wundert mich das nicht mehr", kommentiert ein Nutzer einen Unfall mit vier Toten. "Tod gehört dazu zum Fahren", schreibt ein anderer. Wer erst mal ein "Einsatzvideo" gefunden hat, findet schnell noch mehr. Dafür sorgt der Algorithmus von Youtube. Wer will, kann sich von Unfall zu Unfall klicken - und landet zum Beispiel bei den Aufnahmen von einer Bundesstraße in Hessen. Ein Auto ist mit einem Lastwagen zusammengeprallt, fünf Tote. Auf dem Kanal "Wiesbaden112" wurden Aufnahmen der Unfallstelle hochgeladen. Das Auto ist völlig zerstört, der vordere Teil nicht mehr zu erkennen, das Dach heruntergerissen. Vor gut einem Jahr hat jemand das Video kommentiert: "Ich vermisse dich so mein Onkel."
Im Schnitt betrifft ein tödlicher Unfall 113 Menschen unmittelbar, hat das Verkehrsministerium errechnet. Opferverbände wie die Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD) oder Subvenio beklagen, dass Aufnahmen vom Unfallort den Hinterbliebenen schaden könnten. Umso mehr gilt das, wenn die völlig entstellte Karosserie eines Autos oder sogar die Opfer selbst gezeigt werden. Kaum einer beschäftigt sich so intensiv mit den Folgen von Unglücken wie Heinz-Albert Stumpen. Er ist Verkehrsexperte an der Deutschen Hochschule der Polizei und im Vorstand der VOD. Stumpen befürchtet, dass die Videos zu einer zusätzlichen psychischen Belastung für Opfer oder deren Angehörige führen. "Für ohnehin traumatisierte Menschen ist es nicht zielführend, wenn solche Bilder im Internet zu sehen sind." Filmer Kraus kennt die Argumente, aber er hat andere.