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Laientheater: Schlagkräftig - Sonntagsblick Magazin

Die professionellen Theater gehen in die Sommerpause. Laienbühnen steigen mit ihren Inszenierungen in den Ring. Bestandesaufnahme eines Schweizer Phänomens.

Text MATTHIAS VON WARTBURG

Es ist dunkel. Von irgendwoher schallen dumpfe Schläge. Immer schneller. Die Zuschauer in der Alten Reithalle in Aarau sitzen auf Turnhallenbänken. Jetzt Trainingsmusik. Wieder Schläge. Ein Seilspringer durchschneidet mit seinen Schwüngen die Luft. Jetzt wird klar: Wir sind in einem Boxtraining.

Später kommt es im Stück «Über Boxer» zum finalen Kampf. Zwei Boxer, beide schon 45, erhalten die Chance, noch ein letztes Mal in den Ring zu steigen. Das Aussergewöhnliche: Die Hauptrollen sind nicht mit echten Schauspielern besetzt – dafür mit echten Boxern.

Laiendarsteller, die eine Rolle durch ihren spezifischen Hintergrund überaus authentisch spielen können – auf dieses Konzept setzt die neu gegründete B’bühne in Aarau. Laientheater kann aber auch einfach ein süffiges Lustspiel sein, aufgeführt in einer Turnhalle. In den Hauptrollen der Dorflehrer, der Bäcker und der Coiffeur.

Das sorgt nicht selten für ausverkaufte Vorstellungen. Denn die Laientheaterszene hat in der Schweiz eine lange Tradition, und die ist keineswegs vom Aussterben bedroht.

Die Schweiz hat die grösste Laientheaterdichte

Laut Ruedi Widtmann, Präsident des Zentralverbands Schweizer Volkstheater, sind die Mitgliederzahlen seit Jahren stabil. Und diese Zahlen lassen sich sehen: «Unserem Verband sind über 500 Vereine angeschlossen. Sie machen jedes Jahr rund 500 Inszenierungen mit rund 5000 Vorstellungen. Damit erreichen wir jährlich fast eine Million Zuschauer.»

Keine andere Nation zieht mit Laientheater ein derart grosses Publikum in seinen Bann. «Hierzulande gehen mehr Menschen ins Theater als an ein Fussballspiel», sagt Heidy Greco, Direktorin der Schweizerischen Theatersammlung in Bern. Laut ihr weist die Schweiz im internationalen Vergleich die grösste Laientheaterdichte auf: «In gewissen Gebieten hat fast jedes Dorf seine Laienspielgruppe.»

Der Ursprung dieser Laientheater geht bis ins Mittelalter zurück. In katholischen Gebieten, vornehmlich der Innerschweiz, sei das Laienspiel zur Hochblüte gelangt, so Heidy Greco. Aufgeführt wurden vorwiegend Episoden aus der Bibel, aber auch Fasnachtsspiele.

«Im 19. Jahrhundert, im Zuge der grossen Welle der Vereinsgründungen, erlebte das Theaterspiel landesweit einen Aufschwung», sagt Greco. «Egal welcher Verein – Turnverein oder Kaninchenzüchter – als Höhepunkt war eine Theateraufführung mit Tanz vorgesehen.»

Diese Anlässe dienten vor allem auch zur Aufbesserung der Vereinskasse. Aus dem Vereinstheater entwickelten sich schliesslich Theatervereine, die das Bühnenspiel zur Hauptaktivität erklärten.

Doch, was macht die Faszination des Laientheaters aus? Liliana Heimberg, Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste, hat genau das untersucht: «Unsere Publikumsbefragung zeigte, dass die Persönlichkeiten der Laienspieler und die Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung ausschlaggebend sind.» Laut Heimberg hat der Stoff in Laienstücken häufig einen regionalen Bezug. «Die Laienschauspieler haben so oftmals direkten Zugang zu den verhandelten Themen – das wird vom Publikum geschätzt.»

In ländlichen Regionen ist das Theater ein Ereignis

Deswegen hat man für die Aarauer Inszenierung «Über Boxer» Kampfsportler aus der Region zugezogen. «Mit Davide Zappala vom Kickboxing Wohlen und Bé Wegmann vom Boxclub Aarau haben wir zwei extrem engagierte Boxer gefunden», sagt Jonas Egloff, Regisseur und künstlerischer Leiter der B’bühne. «Sie konnten als Hauptdarsteller dieses Stück tragen und gleichzeitig mit uns zusammen die Geschichten rund um den Boxsport erfinden.»

Zappala und Wegmann standen vorher noch nie auf einer Theaterbühne. Sie haben sich aber mit riesiger Disziplin in die Proben geschmissen und sich fast intensiver vorbereitet als auf einen Boxkampf. Der grösste Teil des Textes stammt von den Boxern, entwickelt haben ihn alle gemeinsam in den Proben.

Auch Regisseur Egloff bereitete sich minutiös auf die Inszenierung vor. So besuchte er für die Recherchen diverse Boxtrainings, ging an Boxkämpfe, las sich in Boxliteratur ein und sah sich alle Rocky-Filme an. Laut Egloff gibt es viele Parallelen zwischen der Theaterbühne und dem Boxring. Die wichtigsten: «Man muss präsent sein, sich nicht verstecken.»

Laut Liliana Heimberg schafft das Laientheater in ländlichen Regionen, was das Theater in der Stadt nicht selten vergeblich versucht: Es wird zum grossen Gesprächsthema. «Theater an dezentralen Orten kann ein Ereignis sein, das im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und Beachtung findet.» Das sei in der Stadt, wo ein Theater tendenziell nur ein bestimmtes Publikumssegment erreiche, sehr viel schwieriger.

Die Innerschweiz ist das Mekka der Laientheater

Wo das Angebot gross ist, steigen auch die Ansprüche an die einzelnen Inszenierungen. «Das Nachbardorf leistet sich zum Beispiel eine Szenografin und ein gut ausgestattetes künstlerisches Team», sagt Heimberg. «Wenn dabei ein Erfolg herauskommt, dann wirkt das ansteckend.»

Im Laientheater-Mekka Innerschweiz ist die herausfordernde Konkurrenz manchmal sogar im eigenen Dorf. Denn: «In der Hälfte der Zentralschweizer Kantone gibt es mehr Theatervereine als Gemeinden», sagt Steve Volkart, Präsident des Regionalverbands Zentralschweizer Volkstheater, nicht ohne Stolz.

Die Mitgliederzahlen seien seit Jahren auf hohem Niveau – wie auch die Qualität der Inszenierung: «Immer mehr Vereine bringen mittlerweile sehr professionelle Produktionen auf die Bühne», sagt Volkart. «Dafür holt man dann auch mal eine professionelle Regisseurin für 20 000 Franken.»

Doch in der Innerschweiz gibt es auch Theatervereine, die gar nichts anderes wollen, als einen einfachen Schwank zur Aufführung zu bringen. Es gibt auch immer Vorstellungen, bei denen das Dorffest nach der Inszenierung im Zentrum? steht. So erinnert sich Volkart an eine Vorstellung, die er besucht hat: «Beim Stück selber hat man die Souffleuse häufiger gehört als die Schauspieler – und trotzdem war die Bude übervoll.»

Auch die Inszenierung «Über Boxer» in der Alten Reithalle Aarau war ein voller Erfolg: Die fünf Vorstellungen waren allesamt praktisch ausverkauft. «Viele Zuschauer hatten einen Boxhintergrund und waren das erste Mal im Theater», sagt Regisseur Egloff. «Andere sagten, dass sie vorher mit dem Boxen nicht viel hätten anfangen können.» Diese Theatergänger verstehen jetzt etwas von der Magie dieser Sportart.

 

«DIE ROLLE BRACHTE UNS NÄHER»

Die Zermatter Schwestern Romaine (22) und Tina (14) spielen beide im Stück «Romeo und Julia am Gornergrat» die weibliche Hauptrolle – die eine als Kind, die andere als junge Frau.

«Romaine (rechts): Es ist schon unglaublich, dass wir jetzt hier die Hauptrolle spielen. Noch vor zwei Jahren spielten wir an den Freilichtspielen Zermatt kleinere Rollen im Stück ‹The Matterhorn Story›. Damals ging ich ganz spontan zum Casting und habe auf dem Weg dorthin noch Tina aufgegabelt. Ich wollte nicht alleine hingehen.

Tina: Stimmt, das Casting war dann aber schon vorbei. Sie machten nur noch ein Foto von uns. Und doch bekamen wir noch zwei Rollen. Ich spielte ein Buremeitli. Romaine erhielt schon damals eine etwas grössere Rolle.

Romaine: Ja, ich war die Freundin eines Bergführers, der zu den Erstbesteigern gehörte. Später kam plötzlich die Anfrage, ob wir im nächsten Stück die Hauptrolle übernehmen wollten.

Tina: Ich konnte mir eigentlich gar nicht genau vorstellen, was das bedeutet. Aber es war klar, dass ich mitmache.

Romaine: Bei mir war die Freude riesig. Es ist nicht selbstverständlich, als Laiendarstellerin eine so grosse Rolle zu bekommen. Die Schauspielerei hat mich richtig gepackt, und ich könnte mir vorstellen, Schauspielerin zu werden. Das unterscheidet uns. Tina hat andere Berufswünsche.

Tina: Ja, das Schauspielern macht schon Spass, später möchte ich jedoch lieber im Gesundheitswesen arbeiten. Jetzt bin ich ja ohnehin noch in der Schule. Wo ich übrigens wegen den Proben immer mal wieder fehle. Romaine hat es da einfacher.

Romaine: Ich bin für das Stück extra von Bern zurück nach Zermatt gezogen. Das Publizistikstudium hatte ich so oder so abgebrochen. Jetzt kann ich mir eine Auszeit nehmen und mich ganz auf die Rolle konzentrieren.

Tina: Wir proben schon seit Februar, seit ein paar Wochen jeden Tag. Es ist schön, so viel Zeit mit der grossen Schwester zu verbringen.

Romaine: Wir sind durch die Rolle näher zusammengewachsen. Vorher war Tina für mich einfach die kleine Schwester. Als ich sie das erste Mal spielen sah, hatte ich Tränen in den Augen. Man identifiziert sich ja immer ein Stück weit mit der Rolle. Als ich meine Schwester in der gleichen Rolle als Kind sah, war es, als sähe ich mich in der Vergangenheit.

Tina: Romaine spielt aber schon viel besser als ich, das ist klar.

Romaine: Nein, das kann man so nicht sagen. Tina ist sechs Jahre jünger. Was sie auf der Bühne zeigt, hätte ich in ihrem Alter so nicht gekonnt.

Tina: Danke, aber das macht mich nur noch aufgeregter. Ja, ich bin wirklich nervös. Jedes Mal wenn mir jemand sagt, dass er dann auch zuschauen komme, verspüre ich so ein leichtes Zittern.

«Romeo und Julia am Gornergrat», in Zermatt VS. 39 Vorstellungen vom 6. Juli bis am 27. August. Info: freilichtspiele- zermatt.ch

«BEIM CASTING HABE ICH GELOGEN»

Othmar Baggenstos (61) steht im Freilichttheater «Winnetou 1» zusammen mit Berufsschauspielern auf der Bühne in Engelberg.

«Als ich vor drei Jahren mit meiner Familie in Zermatt am Skifahren war, vernahm ich zufälligerweise in der Lokalpresse vom Projekt ‹The Matterhorn Story›. Ich war fasziniert von der Idee, den Mythos der Erstbesteigung des Matterhorns auf dem Riffelberg in über 2500 Meter über Meer zu inszenieren.

Am Casting erhielt ich eine Doppelrolle: Die eines adeligen Touristen aus England sowie eine Sprechrolle als Richter Clemenz. Die Tatsache, an einem Projekt von dieser Dimension mitzuwirken, begeisterte und fesselte mich. Dabei lernte ich, dass es eiserne Disziplin, Demut und viel Teamwork benötigt. Ein Jahr später fanden in Altdorf die traditionellen Tellspiele statt. Eine Produktion, die nur alle vier Jahre aufgeführt wird. Und ich dachte: Wieder ein Mythos – da muss ich mitspielen! Auf meine verspätete Anfrage hiess es, dass bereits alle Rollen besetzt seien. Dann fiel jedoch ein Hauptdarsteller aus, und ich durfte die Rolle des Werner von Attinghausen übernehmen. Die prima Zusammenarbeit mit den über achtzig sehr engagierten und passionierten Urner Laiendarstellern bereitete mir viel Freude.

Das war letzten Sommer. Im Januar hörte ich im Radio, dass in Engelberg das Stück ‹Winnetou 1› aufgeführt wird. Winnetou als Freilichttheater – das hatte es in der Schweiz noch nie gegeben. Wieder ein Mythos, da musste ich mitspielen! Anders als bei ‹The Matterhorn Story› und den Tellspielen werden hier die Sprechrollen ausschliesslich mit Profischauspielern besetzt. Trotzdem versuchte ich es direkt beim Regisseur. Ich sagte ihm beim Casting, dass ich gerne eine Sprechrolle hätte. Tatsächlich: Er gab mir die Chance, die Rolle des Banditen Marcy darzustellen. Dies wohl auch nur, weil ich beim Casting geflunkert habe. Eine Notlüge, weil ich die Rolle unbedingt wollte. Sie fragten, ob ich denn reiten könne. Und ich wusste genau, wenn ich jetzt Nein sage, ist es gelaufen. Ich sagte: ‹Klar, reiten kann ich.› Direkt nach dem Casting meldete ich mich zu Reitstunden an. Jetzt in den Proben faszinieren mich die Persönlichkeit, Eloquenz und Professionalität der Darstellerinnen und Darsteller aus Deutschland sehr. Da muss ich schon schauen, dass ich mitkomme.

Ob ich nach Winnetou in weiteren Stücken spiele, wird sich zeigen. Vorerst freue ich mich auf ein weiteres einmaliges Projekt und hoffe, dass meine Reitstunden ausreichen.»