Man kann nicht sagen, dass es an der Friedrichstraße in Berlin subtil zugeht. Schon wer aus der S-Bahn steigt, kann das Plakat der Kinderwunschklinik sehen: Sechs Störche werben darauf für die künstliche Befruchtung. Das Innere der Praxis ein paar Schritte weiter wirkt dagegen gedämpft, im Wartezimmer hängt ein Bild in warmen Orange- und Rottönen. Darunter sitzen Rachel und Marcel Wuttig auf einem Ledersofa. Die anderen Paare und Frauen im Raum vermeiden den Blickkontakt. Zum zweiten Mal warten die Wuttigs hier auf ein Ergebnis: Hat es diesmal geklappt? Ist Rachel schwanger? Gemeinsam mit ihnen hoffen gerade viele Menschen vor ihren Bildschirmen und Smartphones. Denn die beiden haben kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie durch künstliche Befruchtung ein Kind bekommen möchten. Auf Instagram und Facebook warten ihre Follower auf das nächste Posting von Rachel.
2017 wurden in Deutschland 109.779 Behandlungszyklen künstlicher Befruchtung durchgeführt, auch In-vitro-Fertilisation (IVF) genannt. Daraus entstanden 23.500 Schwangerschaften, 17.621 Kinder wurden daraufhin geboren. Diese Zahlen steigen. Was kaum steigt, ist die gesellschaftliche Bereitschaft, darüber zu sprechen: Noch immer ist die Prozedur schambesetzt, ähnlich wie noch vor wenigen Jahren das Onlinedating. Doch Rachel und Marcel wünschen sich nicht nur ein Kind, sie möchten auch das Tabu um die künstliche Befruchtung nicht akzeptieren.
Die Wuttigs leben in Berlin-Friedrichshain. Sie haben es sich hier gemütlich eingerichtet in einer Zweizimmerwohnung. Im Bücherregal Bildbände über New York, der Heimatstadt von Rachel. An der Wand hängt Marcels Klimmzug-Gerüst. Auf einem großen Sofa liegt Daisy, ein Dackel-Mischling. Seit 2015 sind sie verheiratet, sie ist 30, er 32 Jahre alt. Und August 2017 haben sie das erste Mal versucht, ein Kind zu bekommen. "Ich habe meine Temperatur gemessen, Folsäure genommen, wusste genau, wann ich meine Periode bekomme", sagt Rachel. Aber sie wurde nicht schwanger. Tests ergaben, dass Marcels Spermien immobil sind. Das war Oktober 2018. Vier Monate später hatten sie ihren ersten Termin in der Praxis für Fertilität an der Friedrichstraße.
Die Prozedur dauert Wochen, ist aber kurz beschrieben. Zunächst muss Rachel sich 14 Tage lang Hormone spritzen. Dann werden ihr Eizellen entnommen und im Labor mit den mobilsten Spermien von Marcel befruchtet. Nach einigen Tagen werden diese dann in Rachels Gebärmutter eingesetzt. Dann beginnt das Warten.
20. Juli 2019Unsere IVF-Reise, oder: Die Wissenschaft hilft uns, ein Baby zu machen. Tag 1 der Hormon-Injektionen, Marcel musste mir die Spritze geben, da meine Hände gezittert haben. Es hat nicht geschmerzt.
Rachel führt ein Tagebuch in den sozialen Medien. Auf Facebook und lässt sie Freunde und Bekannte teilhaben an ihrer Reise, dem Versuch, ein Kind zu bekommen. "Ich habe nur positive Reaktionen bekommen", sagt Rachel. Viele Menschen hätten ihr geschrieben, ihr Fragen gestellt. Sie wollten wissen, wie es ihr geht und wie diese Prozedur funktioniert. Rachel hat all die Fragen gerne beantwortet. "Ich mag es, Menschen zu helfen." Darum habe sie sich auch ihren Beruf gesucht, sie ist Erzieherin in einer Kita.
1. August 2019
Neun Eier wurden gestern entnommen und zwei befruchtete davon werden am kommenden Montag eingepflanzt. Unser mögliches Zukunfts-Kind formt sich gerade in einer Petrischale in einem Labor. WISSENSCHAFT.
Das postet Rachel mit einem Bild von sich. Auf dem Kopf trägt sie ein blaues Haarnetz, sie ist gerade aus der Narkose erwacht. In der Hand eine Tasse, darauf eine Eizelle und ein Spermium.
Wieso macht Rachel das? Wieso trägt sie diesen so persönlichen Vorgang nach außen, lässt auch Menschen daran teilhaben, die sie kaum kennt? "So bin ich einfach. Ich hatte nie das Gefühl, dass irgendwas in meinem Leben zu privat ist, um es mit Menschen zu teilen. Ich bin niemals allein mit etwas. Viele Leute haben schon das gedacht und gefühlt, was ich auch fühle", sagt sie. Das liege in der Familie, sie sei so erzogen worden.
Sie stelle sich vor, dass die künstliche Befruchtung vielen Menschen Scham bringe, dass sie das Gefühl hätten, irgendwie versagt zu haben. "We are born this way", sagt Rachel dazu. Sie und Marcel können nichts dafür, dass sie auf diese Prozedur angewiesen sind. Vielmehr wollen sie zelebrieren, dass es diese Möglichkeit gibt.
Zu Rachels öffentlichem Tagebuch gehören auch die Rückschläge. Die Momente, die keine Freude bringen, nicht für lachende Smileys unter dem Posting sorgen.