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Édition spéciale

Raus mit den Bänken?! - Welche Kirchenräume Millennials wollen

Predigt von Matthias Alexander Schmidt  | Theologe, Autor, Millennial
im "kreuzundmehr"-Gottesdienst, St. Stefan Oberachern, 18. April 2021


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Was ist eigentlich mit diesen Jünger:innen los? Wieso um alles in der Welt fassen sie ihren Freund Jesus nicht an, obwohl er sie mehrfach dazu auffordert? Warum haben sie solche Angst vor ihm? „Fasst mich doch an“ – aber die Jünger wundern sich nur und schauen zu, wie er einen Fisch isst.


Noch schlimmer finde ich Thomas, im Evangelium von letzter Woche Sonntag. Der spielt sich vor seinen Kumpels erst groß auf: „Wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“ – Aber als Jesus dann da ist und sagt: „Streck deinen Finger aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite“ – Macht er es dann? Berührt er ihn? Steckt er seinen Finger in die Wunden? Bei Caravaggio und auf anderen Bildern sieht das so aus. Aber im biblischen Text steht davon nichts: Da hat Thomas Schiss, knickt ein, wird kleinlaut und bekennt sich lieber schnell zu Jesus: „Mein Herr und mein Gott!“ – Hauptsache nicht anfassen!


Fass mich an


Jetzt kann man sagen: Na gut, Jesus war ja quasi gerade eben erst brutal am Kreuz zu Tode gefoltert worden, sein Grab war mit nem riesigen Stein verschlossen, die Jünger dachten, dass er tot ist, Jesus kommt durch die geschlossene Tür rein – und das können ja nur Geister. Wer hätte da also keine Angst, wenn der Typ auf einmal wieder auftaucht und dann auch noch angefasst werden will. Die Jünger denken, sie sehen ne Leiche, den Geist eines Toten und der sagt auch noch: Fass mich an!


Trotzdem: Warum nutzen die Jünger nicht ihre Chance, Jesus so nah wie möglich zu sein, als sie es dürfen? Ohne Abstandsregeln! Ohne Maske! Ohne Desinfektion!

Ich mein, ich steh jetzt hier, 2.000 Jahre später, viele Meter von Euch entfernt – als Geist auf der Leinwand! Eigentlich bin ich sogar hunderte Kilometer weit weg, in meinem Wohnzimmer in Köln. Aber selbst wenn ich körperlich hier in der Kirche stehen würde, meinetwegen da drüben am: Wären wir uns wirklich nah? Ich hier oben auf der Altarinsel und ihr da unten in den Kirchenbänken, bis in die letzte Reihe? Wo ist da bitte schön das Anfassen, wo ist die Nähe? Haben wir auch Angst davor?


Millennials tragen keinen Hut zur Kirche


Ich stehe so gut wie nie vorne in der Kirche. Meistens sitze ich in langen Holzbänken, mit einer Ablage für die Hände beim Knien und für die Gotteslöber. Und, weiter unten, mit diesen Garderoben-Haken – zum Aufhängen von Jacken meist unbrauchbar – eigentlich nur für Hüte geeignet. Aber wer trägt heute noch einen Hut?


Viele Kirchen sind so aufgebaut und eingerichtet. Ich fühle mich da eher wie in einem Klassenzimmer oder in einem Hörsaal an der Uni. Vorne, hinter dem Altar oder am Ambo steht der Priester, erhöht, und hält quasi die Vorlesung. „Er steht dem Gottesdienst vor“, sagt man ja in liturgischer Sprache. Unten sitze ich in der Bank, neben und hinter mir, kreuz und quer verstreut, ein paar andere Leute, mit ordentlich Abstand zueinander, bis in die letzte Reihe verteilt – nicht erst seit der Hygieneregeln. Die Bänke trennen mich von den anderen. Ich fühle mich in Kirchenräumen oft verloren, geschluckt von dem großen, leeren Raum.


Frontalunterricht Gottesdienst


Das macht Gottesdienste für mich konfrontativ, wie Frontalunterricht – und der gilt ja schon in den Schulen und Unis als überholt. Zu meinen religiösen und spirituellen Bedürfnissen passt diese Art von Kirchen nicht. Gottesdienst soll für mich keine Vorlesung sein. Ich will mich nicht berieseln lassen, Informationen erhalten, mein Wissen vergrößern. Ich habe zwar schon einen gewissen intellektuellen Anspruch, ich möchte aber nicht den Eindruck bekommen, belehrt zu werden. Für die Erklärung der Bibelstellen kann ich ja auch eine Predigt auf YouTube anschauen oder einen Podcast hören.


Als heute Mittdreißiger, als Millennial bin ich mit Smartphone und Google aufgewachsen, Wikipedia, Netflix, Mediatheken – jede Information der Welt ist ständig abrufbar auf diesem kleinen Bildschirm in meiner Hosentasche oder auf dem Nachttisch. Ich fühl mich von Inhalten, von Nachrichten oft überflutet. Wissen, Informationen kann ich jederzeit im Internet abrufen. Warum sollte ich mich dafür eine Stunde lang in eine Kirchenbank setzen?


Schutz vor digitaler Nähe


Was mir fehlt und was ich mir wünsche, ist Zeit zum Nachdenken, für Stille, Rückzug, Meditation, dafür, mein Inneres anzuschauen, in Ruhe auf die vergangene Woche zu reflektieren: Zeit für mich selbst, für Beziehungen und Gemeinschaft. Ich will mich selbst über das Digitale hinaus erfahren und mit anderen verbinden. Wenn ich in die Kirche gehe, will ich nah dran sein, beteiligt, ein Teil von einer Gemeinschaft.

Jetzt bin ich physische Distanzen und Entfremdung inzwischen gewöhnt, nicht erst seit der Pandemie. Mein Leben spielt sich digital ab, an PC und Smartphone: Texte, Bilder, Videos, Eindrücke, im Bus, im Bett, auf der Toilette – mit Augen ganz nah dran an dem kleinen Bildschirm, mit den Fingern fasse ich die vielen Bilder an. Das fühlt sich oft sehr nah an. Manchmal muss ich mich vor der digitalen Nähe schützen, vor der Überfülle an Bildern.


Junge Erwachsene wie ich fühlen sich deshalb heute oft von sich selbst und von der Welt entfremdet. Wir spüren eine gewisse Angst vor dem Fremden, vor Nicht-Vertrautem. Und gleichzeitig wünschen wir uns Nähe und Vertrautheit. Mit gelungenen Gottesdiensten verbinde ich Intimität und Gemeinschaft. Diese Bedürfnisse bringe ich mit, wenn ich in die Kirche gehe.

Eine ambivalente Grundstimmung: Wunsch nach Vertrautheit und Intimität, zugleich Gefühle von Entfremdung und Angst vor Nähe.


Angst vor Nähe


Zeitsprung: Vor zwei Wochen: Gründonnerstag: Haben die Jünger:innen in dem Abendmahlsaal in Holzbänken hintereinander gesessen? Hat Jesus irgendwo vorne am Tisch gestanden? Jesus wollte doch seinen Freund:innen, nahe sein, gleichberechtigt. Sie haben in einem kleinen Kreis zusammen um einen Tisch herumgesessen. Sie lagen zu Tisch, einer sogar mit dem Kopf an seiner Schulter oder auf seinem Schoß.


Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich richtig gut in die Angst der Jünger hineinversetzen. Petrus im Abendmahlssaal bei der Fußwaschung. Der will das nicht, dass Jesus ihn so intim berührt und die Füße wäscht. Der hat richtig Angst vor dieser körperlichen Nähe und vor dieser ungewohnten Verdrehung von gesellschaftlichen Regeln und religiösen Gewohnheiten.


Raus aus der letzten Kirchenbank


Jesus will ihm aber nahe sein, Petrus soll quasi aus der hintersten Kirchenbank rauskommen, ganz nach vorne. Jesus kommt von der Altarinsel runter zu ihm und will ihn mitnehmen in den familiären, freundschaftlichen Kreis einer Eucharistiefeier rund um den Altar. Die Auflösung der Asymmetrie in der Beziehung verstört Petrus – Jesus wird vom Lehrer zum Freund und Diener. Als Jesus ihm dann aber klarmacht, dass er ihm die Füße waschen muss, weil er sonst keinen Anteil an ihm hat, will Petrus dann ganz gewaschen werden.

Mir geht es so: Wenn ich in den Gottesdienst gehe, will ich Jesus nahe sein und nicht auf Entfernung in der Bank sitzen: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“


Ich finde, die Fußwaschung müsste zum Sakrament erhoben werden. Jeden Sonntag, ja sogar täglich wird Eucharistie mit Brot und Wein, Leib und Blut Christi gefeiert. Jesus sagt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Aber eben auch: „Wenn nun ich euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ Warum wird dieser Auftrag zur Fußwaschung, zum Anfassen nur einmal im Jahr umgesetzt, das Brechen von Brot und Wein aber täglich?


Fußwaschung: Das Millennial-Sakrament


Für mich ist die Fußwaschung das angemessene Millennial-Sakrament. Es drückt genau die Intimität, Vertrautheit und Nähe aus, die ich mir von Gottesdiensten wünsche. Die ist für mich in Holzbänken leider kaum möglich. Die schönsten Gottesdienste habe ich mit relativ kleinen Gruppen im Kreis gefeiert, auf Hockern oder auf dem Boden, zum Beispiel mit einer Jugendgruppe oder abends auf Exerzitien-Tagen – meist mit Menschen, die sich schon ein wenig kannten, gemeinsam etwas erlebt oder geschafft hatten. Bei den sogenannten „Exerzitien auf der Straße“ gibt es häufig sogar eine Gottesdienstfeier, bei der Begleitenden und Teilnehmende einander die Füße waschen und salben, ein sehr intimer Moment.


Ich bin jetzt zwei Jahre älter, als Jesus überhaupt werden durfte. Aber als Millennial in seinen Dreißigern fühle ich mich ihm sehr nahe. Er brauchte lange, bis ihm klar wurde, dass er etwas Eigenständiges machen musste. Er wollte keine hölzernen Bänke zimmern, sondern hat die religiösen Gewohnheiten seiner Zeit hinterfragt, um seine eigene Spiritualität zu finden. „Nobody talks about Jesus‘ miracle of having 12 close friends in his 30s“ hab ich in einem christlichen Meme gelesen – Niemand spricht über das Wunder Jesu, in seinen Dreißigern 12 enge Freunde zu haben“. Berufseinstieg, Karriere, Flexiblität und Mobilität, digitales Leben – die Zeit für enge Freundschaften muss ich mir als Millennial aktiv nehmen. Millennial-Gottesdienst könnte dann bedeuten, gemeinsam Erfahrungen und Erlebnisse auszutauschen – essen, trinken, gemeinsam singen, schweigen, beten, einander die Füße waschen.


Ich kenne Kirchenräume und liturgische Formen, die diesem Gründonnerstag-Vorbild ein bisschen näherkommen. In der Kirche der ökumenischen Brüdergemeinschaft von Taizé in Burgund sitzen alle, auch die Brüder auf Teppichboden oder auf kleinen Gebetshockern, alle beten gemeinsam in dieselbe Richtung. Die Kirche kann mit mobilen Wänden an die tatsächliche Gruppengröße angepasst werden, sie fühlt sich nie zu klein oder zu groß an. In „Sankt Peter“ bei den Jesuiten hier in Köln werden nur so viele Stühle gestellt wie auch tatsächlich Gottesdienstbesucher:innen kommen. Die Kirche wirkt nicht leer. In Exerzitienhäusern wird der Meditationsraum oft auch für die Eucharistiefeier genutzt, mit einem kleinen Altar in der Mitte.


Sicherheit oder Sehnsucht


Wie Petrus vor der Fußwaschun und wie Thomas vor den Wunden Jesu habe ich Angst und Respekt vor der Abschaffung gewohnter Formen und Regeln. Wie soll das bloß werden, mit fremden Leuten im Kreis um den Altar sitzen, ohne die schützenden Holzbänke vor und hinter mir?

Wenn ich fordere, die Bänke aus den Kirchen zu tragen, setze ich ja auf Unsicherheit. Und die ist mir als Millennial eigentlich so gar nicht recht. Es verändert sich schon ohne das Zutun unserer Generation so vieles in der Welt – und wie viele Leute in meiner Altersgruppe habe ich ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Aber was ist mir wichtiger? Sicherheit, Gewohnheiten? Oder meine Sehnsüchte, der Wunsch nach Reflexion und Innerlichkeit, nach Gemeinschaft. Um Nähe zuzulassen, muss ich vielleicht erst den Finger in meine eigenen Wunden legen, Nähe zulassen, um meine Angst davor zu überwinden.