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Spring doch! - Linus auf dem Zehn-Meter-Brett. Jetzt weiß er, was weiche Knie sind

©Maximilien Van Aertryck & Axel Danielson

Wie sieht es aus, wenn jemand zum ersten Mal im Leben im Schwimmbad vom Zehner springen soll? Kann man die Angst sehen? Zwei junge schwedische Filmemacher wollten das herausfinden. Deshalb haben sie einen Dokumentarfilm gedreht: Mit Menschen, die vorher noch nie auf dem Zehner gestanden haben. 

Von Matthias Alexander Schmidt


Linus steht am Rand der Plattform und schaut nach unten. Am höchsten Punkt des Schwimmbads, ganz oben an der Kante. Nur das leise Rauschen der Wasseraufbereitungsanlage ist zu hören. Zehn Meter bis zur Wasseroberfläche. Dann noch mal fünf Meter bis zum Grund des Beckens. Schwindelerregend. Was geht wohl in seinem Kopf vor? Der schlanke blonde Junge sieht ängstlich und verspannt aus. Seine Freundin Frida steht neben ihm und redet ihm gut zu: "Entscheide dich einfach, und dann zieh's durch ... oder?" So einfach, wie das klingt, ist es offensichtlich nicht. Linus wirkt fahrig. Immer wieder streicht er sich mit der Hand nervös durch die blonden Haare, kratzt sich am Kopf, rückt seine violetten Badeshorts zurecht. Übersprunghandlungen. Dann sagt er: "Auf gar keinen Fall nehme ich Anlauf und renne. Wenn, dann spring ich direkt hier vorne von der Kante."


Frida und Linus sind noch nie vom Zehner gesprungen. Für alle 67 Teilnehmenden dieses Experiments ist es das erste Mal. Alles vor den Kameras und Mikrofonen der Filmemacher. Die wollten das Verhalten der Teilnehmer beobachten, sagt Maximilien Van Aertryck, einer der Regisseure: "Wenn sie ganz hinten stehen, versuchen die Leute so einen Charakter zu spielen, von wegen: Ich bin mutig, das hier werde ich schon packen. Je näher sie dann aber an die Kante gehen, desto mehr werden sie sie selbst und desto mehr fällt dieses ganze Spiel weg, und ihr Verhalten wird angesichts der Situation immer natürlicher. Dann übernimmt die Angst, der Körper wird schwach und die Knie weich."


Die Filmemacher schalteten Anzeigen im Internet, warben für das Experiment. Jedem Teilnehmenden sagten sie eine Aufwandsentschädigung von dreißig Euro zu - allein fürs Hinaufklettern. Ob man sprang oder nicht, blieb jedem selbst überlassen.

"Sind Zweifel und Ängste universale Gefühle?" Das ist eine der Fragen, die Maximilien Van Aertryck und seinen Kollegen bewegte. Hundert Leute bewarben sich für das Experiment, davon suchten die beiden 67 in einem Casting aus. Wichtig war dabei, dass Teilnehmer jeden Alters, Männer und Frauen und Menschen unterschiedlicher Herkunft mitmachten. Die älteste Teilnehmerin war über siebzig Jahre alt. Sie stand minutenlang auf der Plattform, ging schließlich zurück zur Treppe und stieg sogar schon wieder die ersten Stufen hinunter. Dann sprang sie doch noch, ganz ruhig, mit einem kleinen Schritt über den Rand, kerzengerade.

Springen muss letztlich jeder selbst. Wer schon gesprungen ist, hat leicht reden und kann die anderen ermutigen, dass es schon nicht so schlimm sein wird. Doch auf den Sprung kann sich niemand "trocken" vorbereiten. Wie man es sich auch ausmalt, den Moment der Entscheidung muss man selbst erleben.


Rund drei Viertel derjenigen, die oben an der Kante standen, sind tatsächlich gesprungen. Maximilien Van Aertryck und sein Kollege Axel Danielson wollten herausfinden, ob sie genau den Moment mit der Kamera einfangen können, wenn die Leute sich entscheiden, kurz bevor sie dann wirklich springen.

Linus ist inzwischen so aufgeregt, dass er seiner Freundin Frida nicht mehr richtig zuhören kann: "Aber sprich bitte trotzdem weiter, deine Stimme wirkt beruhigend", sagt er und schnippst nervös mit den Fingern, er atmet aus. Dann beugt er sich vor und stützt seine Hände auf den Knien ab: "Meine Knie zittern. Ich hab gerade entschieden, es durchzuziehen, und jetzt zittern meine Knie. Jetzt versteh ich, warum man sagt: Ich krieg weiche Knie."


Für den Film ist Maximilien Van Aertryck selbst zum ersten Mal vom Zehner gesprungen. Aus seiner eigenen Erfahrung und von dem, was er bei den Teilnehmenden beobachtet hat, schließt er, dass mutige Entscheidungen nicht nur im Gehirn stattfinden: "Wir haben das Gefühl, das unser Ich, unser Gehirn, unser Denken, die tagtäglichen Entscheidungen trifft. Aber unser Körper und unser Herz spielen auch eine ganz große Rolle, ohne dass wir das immer wirklich merken. Mut heißt für mich, die ganzen irrationalen Gedanken aus dem Gehirn zu ziehen. Das ist natürlich sehr schwer." Nach seinem Sprung fühlte er sich ein paar Minuten lang glücklich und stolz, erzählt Maximilien. Doch das Gefühl hielt nicht lange an, und er wollte nie wieder springen. "Wir wollten aber unbedingt noch eine Szene haben, in der zwei Leute gleichzeitig hinunterspringen. Nur dafür bin ich dann mit meinem Kollegen doch noch ein zweites Mal gesprungen." Als er dort oben stand, sagt Maximilien, dachte er über die verrücktesten Dinge nach: "Ich hatte so einen evolutionären Gedanken: Wenn ich jetzt heute hier bin, dann doch deshalb, weil meine Vorfahren solchen Mist nicht gemacht haben. Warum sollte ich denn jetzt dieses Risiko eingehen? Obwohl man ja im Grunde weiß, dass schon nichts Schlimmes passieren wird."


Ein Viertel der Teilnehmenden haben sich entschieden, nicht zu springen, sondern wieder herunterzuklettern. Eigentlich findet Maximilien diejenigen mutiger. Unten warten schließlich die Freunde und die anderen, die schon gesprungen sind. "Aber die, die runtergeklettert sind, hatten teilweise das Gefühl, als ob sie sich umbringen würden, wenn sie springen."


Linus scheint endlich bereit zu sein und will seinem Absprung vor den Kameras richtig Pathos verleihen. Feierlich verabschiedet er sich von seiner Freundin Frida. Sie soll gleich nach ihm springen. In diesem Moment erinnert er sich an seine Kindheit, an Astrid Lindgrens Roman "Die Brüder Löwenherz", in dem zwei Brüder nach ihrem Sprung aus dem Fenster ihres brennenden Hauses sterben und durch ihren Tod in das Märchenland Nangijala kommen. Daran muss Linus jetzt denken. Er dreht sich zu Frida um: "Wir sehen uns auf der anderen Seite", sagt er. "In Nangijala!" Dann springt er - mit einem markerschütternden, gellenden Schrei. Der hallt noch durch die Schwimmhalle, als er längst ins Wasser geplatscht ist. Frida schaut ihm hinterher und lacht: "Nangijala!", murmelt sie. Und dann schreit sie - und springt.


Der 16-minütige Kurzfilm "Hopptornet - Ten Meter Tower" der schwedischen Regisseure Axel Danielson und Maximilien Van Aertryck war 2016 auf der Berlinale zu sehen und hat im Frühjahr 2017 zwei Preise beim internationalen Kurzfilmfestival "Court-Métrage de Clermont-Ferrand" in Frankreich gewonnen. Der Film ist im Internet auf der Homepage der "New York Times" zu sehen. Man findet ihn, indem man einfach in Suchmaschinen den Titel eingibt. 


Matthias Alexander Schmidt ist katholischer Diplomtheologe, freier Journalist und pädagogischer Begleiter für junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr. Autor unter anderem für den Hessischen Rundfunk und den Deutschlandfunk. Er lebt in Köln.
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