Früher ist man noch rauchen gegangen, wenn der DJ in der Indiedisco auf die Idee kam, Lady Gaga aufzulegen. Heute kann selbst die hochnäsigsten Musikfans kaum noch etwas schockieren. Poptimismus nennt man die Bewegung, die in den letzten Jahren viele Stile, Künstlerinnen und Künstler rehabilitiert hat, die einst als guilty pleasures galten, weil sie findet, dass Lady Gaga die gleiche ernsthafte Betrachtung verdient wie Radiohead. Zu Recht natürlich.
Das Phänomen Hyperpop ist eine Art Unterressort des Poptimismus. Das britische Label und Kollektiv PC Music begann vor zehn Jahren damit, einige der verpöntesten Mittel der Popmusik zu nutzen - das Lieblingsinstrument von Labelchef A. G. Cook ist die SuperSaw, aus der der typische Synthesizersound von Trancemusik entstand - und diese Mittel derart auf 180 zu drehen, dass experimentelle Popsongs entstehen. Vor allem Musik der Jahrtausendwende - Trance, Eurodance und das Frühwerk von Britney Spears - wurden durch PC Music rehabilitiert. Ein paar Genres bleiben aber doch noch, die dem gehobenen Musikdiskurs bis heute unangenehm sind. Ska? Nu Metal? Da gibt's noch was zu tun, da kann man noch was bewegen. Darum kümmern sich 100 Gecs.
Das Duo aus St. Louis wird oft dem Hyperpop zugerechnet, Laura Les und Dylan Brady sind außerdem erklärte Fans von PC Music. Sie klangen aber schon immer anarchischer und weniger ernsthaft als die Künstlerinnen und Künstler aus England, und das nicht nur, weil sie anstelle der SuperSaw zur verzerrten Gitarre greifen. 100 Gecs schreiben Songs, in denen Genres kollidieren. Songs, die klingen, als hätte man mehrere Browsertabs offen, in denen gleichzeitig Musik läuft. Aus der Kombination verschiedener Einflüsse soll jedoch nichts harmonisches Neues entstehen. Es soll disparat klingen. Das Aufeinandertreffen der Genres erzeugt Abfallprodukte, und den Abfall soll man auch hören. Genderfuck ist ein Begriff für die Art von Genderpräsentation, bei der man klar erkennbare Stereotype und Tropen reproduziert, sie dann aber auch überzeichnet, vermischt und verwirrt. Die Musik von 100 Gecs kann man analog dazu als Genrefuck beschreiben.
Les und Brady machen seit 2015 zusammen Musik. Als Durchbruchmoment gilt ihr DJ-Set beim Fire Festival - einem virtuellen Festival, das 2019 innerhalb der Videospielwelt von Minecraft für ein Publikum aus Avataren stattfand. Die Internetaffinität und vor allem der internetaffine Humor sind wichtige Teile des 100-Gecs-Konzepts. Bei Konzerten vor echtem Publikum kann man zum Beispiel beobachten, dass Leute mit dem Retro-Game-Boy Nintendo DS Videos machen. Der Witz ist wahrscheinlich schlicht, dass die so entstehenden Aufnahmen ziemlich schlecht sind, voller Störgeräusche, wie man sie auch in der Musik des Duos hören kann. Ebenfalls 2019 veröffentlichten 100 Gecs ihr Debütalbum 1000 Gecs. Der nun erschienene Nachfolger hat erneut eine Dezimalstelle mehr.
Auf 10,000 Gecs nehmen vor allem die Pop-Punk-, Emo- und Nu-Metal-Einflüsse zu. Das ist nicht überraschend: Pop-Punk und Emo sind dank der Revival-Maschine TikTok aktuell auch im Mainstream wieder hoch im Kurs. Und weil auf TikTok, ebenso wie beim Musikkonsum auf Spotify, alles ahistorisch nebeneinandersteht, ist auch der Sprung zum Nu Metal nicht weit. Interessant dabei: Nu Metal ist traditionell ein sehr männliches, breitbeiniges Genre. Man denke an Limp-Bizkit-Sänger Fred Durst, der bis heute den Charme eines chauvinistischen Skateboarders versprüht, weil er wahrscheinlich immer noch einer ist. Es sind aber vor allem Frauen und queere Personen, die den Neunzigerjahre-Stil nun in die Neuzeit retten: Rina Sawayama, die Genderfuck-Ikone Dorian Electra, Will-Smith-Tocher Willow, Demi Lovato oder eben die 100 Gecs.
(...)