An jedem Tag stehe ich vor Deutschlands wohl strengster Grenze. Sie ist keine Mauer aus Stein und doch schwer einzureißen. Sie ist kein Stacheldrahtzaun, und doch verletzt sie mich, wenn ich sie überwinden will. Sie ist auf keiner Karte verzeichnet und verläuft doch überall. Diese Grenze teilt das Land in zwei Seiten: in „Wir“ und „Ihr“.
Ich war etwa sieben, als ich die Grenze zum ersten Mal bewusst bemerkte. Es war ein Wandertag mit der Schule. Wie Wandertage eben so sind, wanderten wir nicht in den Harz, sondern ins Kino, und wie Kinder eben so sind, gingen meine Freunde und ich vor dem Film ins nächste McDonald’s. Wir waren fünf Jungs, jeder holte sich eine Cola. Beim Rausgehen rempelte mein Freund, nennen wir ihn Nils, einen anderen Jungen an.
„Pass doch auf, du Penner!“, rief der Junge.
„Verpiss dich, du scheiß Türke!“, zischte Nils.
Der Junge schlug Nils gegen die Schulter und ihm dann die Cola aus der Hand. Das machte er auch bei meinen anderen Freunden. Am Ende lagen vier Pappbecher auf dem Asphalt. Dann kam der Junge zu mir. Er sah mich an und sagte: „Nein, du nicht. Du bist einer von uns.“
Lange verstand ich nicht, was er damit gemeint hatte. Wer war „uns“? Und wieso gehörte ich dazu? Ich kannte den Jungen nicht. Ich wusste nicht, wo er geboren und aufgewachsen war. Woher seine Familie stammt. Trotzdem, das lernte ich mit der Zeit, hatte ich wohl mehr mit ihm gemeinsam als mit Nils, meinem Freund. Unsere Gemeinsamkeit war, dass wir anders waren. Meine Augen waren anders, genauso wie sein dunkler Teint.
Ich weiß nicht, ob ich dem Jungen danken soll, dass er mir die Grenze zeigte. Aber ich realisierte damals, dass ich schon mein ganzes Leben vor ihr stand und auf die andere Seite spähte: die Seite der Deutschen. Auch heute, fast 20 Jahre später, frage ich mich, wie man da eigentlich rüberkommt.
Ich spüre die Grenze, wenn mir Leute sagen: Krass, du sprichst ja gut Deutsch. Ich spüre sie, wenn ich beim Amt anrufe und meinen Nachnamen buchstabiere: Ku, ach, das ist ja ein witziger Name, hehe, so schön kurz. Ich spüre sie, wenn sich Menschen während der Corona-Zeit in der U-Bahn von mir wegsetzen oder ich bei der Arbeit im Homeoffice auf die Videokacheln meiner Kollegen sehe: Die Gesichter sind alle weiß.