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Eine Stadt im Aufbruch

In Rieneck ist das Gewerbegebiet bald voll. Gleichzeitig steht nahezu jedes zwölfte Wohnhaus leer. Bürgermeister Sven Nickel will das nicht mehr hinnehmen.

Langsam findet der Tag sein Ende und Sven Nickel sperrt das Rathaus zu. Er tritt auf den Vorplatz, Pflasterstein-Romantik. Also gar keine Romantik. 


"Nur dass Sie einmal sehen, wie bekloppt ich bin", sagt Nickel und beginnt herumzuzeigen. Auf ein verwahrlostes gelbes Wohnhaus, einen Leerstand. "Scheiße, dass es verputzt ist", sagt er. "Der Kern ist aus dem 16. Jahrhundert. Das wird mal ein Schmuckstück." Auf einen biederen Bau, "ein altes Schlachthaus, in den 60er-Jahren so dahin genehmigt". Auf einen Altbau mit Blick auf das Tal, das Feuerwehrhaus, "aber für den Zweck eigentlich nicht geeignet". Das Elektroauto, das am Rücken der Sandsteinkirche parkt, ist seines und Nickel lacht. "Dieser Platz soll unser neues Wohnzimmer werden."


Seit zwei Jahren ist Sven Nickel inzwischen Bürgermeister von Rieneck. Die Stadt, mit um die 2000 Einwohnern, liegt etwas nördlich von Gemünden im Sinngrund. Der Altort am Hügel ist durchzogen von altem Fachwerk. Es gibt einen Bahnhof im Tal, ein Gewerbegebiet, Wald, Straßen, Leerstand. Eine typisch ländliche Kommune mit Problemen, wie sie typisch ländliche Kommunen eben haben. Und deshalb kann man an Rieneck so gut die Geschichte einer Wende erzählen.


Statistisch gesehen werden Rienecker immer älter und weniger. Die Anforderungen an das Wohnen verändern sich. Immer mehr Singles und Kleinfamilien gibt es, andere Lebens- und Arbeitskonzepte, für die Rieneck kaum etwas im Angebot hat und die deshalb nicht hier wohnen können. Selbst wenn sie wollten.


Und das obwohl nahezu jedes zwölfte Haus leer steht, 30 davon allein im Altort. Dazu knapp 80 Baulücken und, bis vor kurzem, auch noch ein Haufen freier Bau- und Gewerbeplätze. Ein Problem – so sagen die Prognosen, die ein Büro für das sogenannte Integrierte Nachhaltige Stadtentwicklungskonzept (INSEK) zusammengetragen hat – das in Zukunft eher schlimmer als besser werden kann. Mit diesen Prognosen will sich Sven Nickel nicht abfinden.


Wo anfangen?

Ein paar Stunden zuvor in Nickels Büro. Dunkle Holzmöbel, die Ordner sauber aufgereiht im Schrank. Nickel, mit 42 noch jung für einen Bürgermeister, hat sich in seinen Stuhl gelehnt. Bis Ende des Jahres wollte er ein papierfreies Büro haben, sagt er. Nur knapp sei er daran gescheitert. Aber es wird, mit der Modernisierung.


Und damit zu einem anderen Stück Papier. "Ich habe keinen Bock, jedes Jahr wieder auf die Einwohnerzahlen zu schauen, und es sind wieder weniger", sagt Nickel. Rieneck sehe er definitiv nicht als aussterbende Stadt. Im Gegenteil. Doch, wo anfangen?


"Das Grundsätzliche muss passen"

Wenn die Stadt nicht sterben soll, dann braucht sie Leben, sie braucht konstante Erneuerung, Abwechslung, Attraktivität. Erst dann kommen neue – oder bleiben – junge Menschen.


"Das Grundsätzliche muss erst einmal passen", sagt Nickel und meint: Infrastruktur. Fahrtzeiten des ÖPNV, die Schule, schnelles Internet, Nah- und medizinische Versorgung. Deshalb macht die Stadt witzige Werbevideos für einen neuen Arzt (erfolgreich). Deshalb plant die Stadt an einem Neubau für den Nahversorgungsladen. Städtische Gebäude wurden oder werden gerade saniert. Einen Bahnhof gibt es schon, Breitband, also schnelles Internet, soll schnell kommen. Der Ort soll ein Zuhause werden. Ein Zuhause braucht ein Wohnzimmer. Und deswegen wird auch der Platz vor dem Rathaus, natürlich, saniert.


"Unsere Leute müssen sehen, dass was geht", sagt Nickel. "Nur so entsteht eine Dynamik." Nickel ist überzeugt, dass mehr als genug Leute nicht in den Städten wohnen wollen würden oder könnten. "Mit der Miete in Schweinfurt kann man sich hier ein Haus finanzieren, plus etwas Grün noch", sagt er. Und: "Ist das nicht geil?"

Zu wenige Wohnungen trotz Leerstand

Wir spazieren weiter durch den Ort, vorbei an offenen und geschlossenen Wirtshäusern. Ein nettes Café gibt es. Schönes Fachwerk steht neben zerfallendem und abblätterndem Putz. Wir stoppen vor dem Haus, das der Bürgermeister mit seiner Frau gerade erwirbt. Wer neue, junge Leute will, Auszubildende, Studierende, Singles, der muss auch Orte zum Wohnen bieten, sagt er.


Zwei Probleme. Erstens: Rieneck kann das kaum. "Weil wir kaum Mietwohnungen haben", sagt Nickel. Er hat sich selbst nun das Haus gekauft, will es sanieren, um Mietwohnungen zu schaffen. Und auch, um zu zeigen: "Ich glaube an meinen Ort." Zwei, drei andere Rienecker habe er auch schon überzeugt. Genug sei das natürlich nicht, aber ein Anfang.


Zweitens: Einfach in Leerstände hineinzuziehen, geht auch nicht. Die stünden in der Regel aus einem Grund leer, sagt Nickel. Sie haben sogenannten "Sanierungsbedarf". Zehntausende Euro an Kosten für die Besitzerinnen und Besitzer, Debatten mit Ämtern und Banken. Viele brauchen das Geld nicht, den Stress nicht. Warum auch, noch dazu in einem (gerade noch) schrumpfenden Ort?


"Man muss die emotionale Bindung zum Ort schaffen", sagt Nickel. Das Gespräch sei eigentlich die einzige Chance, wie man das schafft. Und wenn das nicht funktioniert, dann gibt es noch zwei kleinere Hebel zum Ansetzen. Die Beratung: Steuersparen, Förderungen, Ideen aufzeigen. Letztere funktionieren aber auch nur, wenn man selbst welche hat. "Viele wissen einfach nicht, was sie mit ihrer leeren Immobilie machen sollen", sagt Nickel.

Und weil selbst das nicht immer funktioniert, wenn es noch einen letzten Anreiz braucht: "Dann kümmere ich mich darum, dass die Leute alle Fördermöglichkeiten in Anspruch nehmen können und von mir aus mit Geld zugeschissen werden."


Gestalten können ist Priorität

Was Rieneck macht, ist kein Geheimnis. Immer wieder würden andere Bürgermeister bei ihm anrufen, fragen, wie Rieneck das Gewerbegebiet gefüllt, wie (wahrscheinlich) einen Nachfolger für die Ärztin gefunden, wie inzwischen fast alle Rest-Bauplätze verkauft wurden. Wir stehen vor einem dieser schönen Fachwerkhäuser, beste Lage, direkt am großen Parkplatz in der Stadtmitte. Vor ein paar Jahren hat ein britisches Paar es gekauft, Wohnsitz in den Niederlanden. Inzwischen sind sie von dort weggezogen – nicht nach Rieneck, und die Stadt kann sie nicht mehr erreichen. Deshalb will er auf so vielen Häusern wie möglich die Hand draufhaben, sagt Nickel. "Ich muss lenken und nicht gelenkt werden."

Immobilien sind daher erst einmal Chefsache. Bei jeder Wohnplatz- oder Hausbesichtigung ist Nickel dabei (von den Bauplätzen sind nur noch zwei übrig). In dem Zusammenhang ist auch ein anderer Satz wichtig. Er sagt: "Das Schlechteste, was man machen könnte, ist aktuell ein Neubaugebiet."


Es braucht Rückhalt in der Bevölkerung

Und da kommt auch das Integrierte Nachhaltige Stadtentwicklungskonzept (INSEK) ins Spiel, ein unglaublich holziges Wort für Bürgerbeteiligung bei der Stadtentwicklung. Für Rieneck bedeutet das die Ausweitung des Sanierungsgebietes über fast den gesamten Altort. Es bedeutet mehr Förderungen und mehr Förderungen bedeuten wiederum mehr Einfluss auf das Endergebnis. Plus: Vorkaufsrecht der Stadt.


Dazu wird es einen Fonds geben, gemeinsam mit der Regierung von Unterfranken, um das Recht auch auszuüben. "Man muss immer auch etwas ins Risiko gehen als Stadt", sagt Nickel, der sich als Sozial-Liberaler bezeichnet. "Ich würde gerne den Rahmen für die Zukunft schaffen, damit Private handeln können." Und das Geld dafür? "Wir werden an unsere Reserven gehen müssen. Aber für was sind sie denn sonst da?"


Nickels Handy klingelt. Seine Frau. Die Kinder würden Fischstäbchen essen wollen. "Dann lass' sie", sagt er. Also: Zeit für letzte Worte. Nickel redet noch einmal über Stillstand, den es aufzubrechen gilt. Über Glück, das unbedingt auch dazu gehören muss. Genauso wie ein "toller Stadtrat", Rückhalt in der Bevölkerung, Kreativität und Willen. Am Ende muss man es einfach tun.

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