In einem kleinen Vorort von Fort McMurray, dieser durch Öl-Fracking unverschämt reich gewordenen Stadt im Nordwesten Kanadas, startet Robbie Picard seinen Bus. Mattschwarz, 1977er Baujahr – genau wie er selbst. Picard ist Öl-Aktivist, genauer: der wahrscheinlich bekannteste Pro-Öl-Aktivist der Welt. Und allein damit steht er so ziemlich gegen fast alles, was Premier Justin Trudeau verkörpert.
Justin Trudeau hat ambitionierte Pläne
Es ist Anfang September, als Picard durch die weiten Landschaften Albertas tourt. Am Horizont die Flammen der Fracking-Werke. Es sind keine zwei Wochen mehr bis zur Wahl und kurz zuvor hat Trudeau einen der ambitioniertesten Klimaschutzpläne vorgelegt und damit das baldige Ende der Fracking-Ära und irgendwie auch dieser Stadt eingeläutet.
Picard will deshalb nach der Wahl mit dem Bus in Richtung kanadischer Hauptstadt fahren. Im Gepäck ein Haufen Geschichten von „echten Kanadiern“, warum man im Norden seiner Stadt unbedingt noch mehr und auf jeden Fall ganz lange Erdöl aus dem Boden sprengen und in die Welt verschiffen sollte.
Premier Trudeau konnte damals nichts falsch machen
Wie er denn zu Justin Trudeau stehe, fragt der Reporter. Da überrascht Picard: „Er ist einer unserer effektivsten Politiker. Ein Schauspieler zwar, aber angenehm und nett. Für kurze Zeit hat er sogar mich mal zum Liberalen gemacht.“ Der Pro-Öl-Aktivist Picard ist Zeuge einer Zeit, in dem Trudeau einfach nichts falsch machen konnte. Die Leute liebten ihn. So sehr, dass Trudeau vor sechs Jahren seiner zuvor am Boden liegenden liberalen Partei (eine Mischung aus SPD und CDU) zur absoluten Mehrheit verhalf.
Justin Trudeau setze sich zu hohe Ziele
Die Liberalen mit Trudeau an der Spitze stehen gerade nur noch um die 31,7 Prozent laut dem CBC Poll Tracker. Ihr Vorsprung von etwa zehn Punkten auf die Konservativen ist schon nach wenigen Tagen auf nahezu null eingeschmolzen. Dahinter stehen der aktuelle Koalitionspartner der Liberalen, die NDP (eine etwas linkere SPD) und der Bloc Québécois (die nur aus Quebec stammende Abgeordnete beheimatet). Wie in Deutschland wird nach der Wahl das Koalitionsfarbenspiel beginnen.
Die ersten drei Jahre von Trudeaus Amtszeit, bis Ende 2018, schien er unangreifbar. Dann wurde öffentlich, dass er die damalige Justizministerin dazu gedrängt haben soll, in ein laufendes Korruptionsverfahren zugunsten einer Baufirma einzugreifen. Die Opposition forderte ihn zum Rücktritt auf, Trudeau blieb. Die Nationalwahlen 2019 überlebte er nur knapp im Amt.
„Er war sehr gut darin, den Kult um ihn politisch zu nutzen. Aber jetzt hat diese sorgfältig kultivierte Person Narben“, sagt Prest. „Es ist hart, Kanada in all seinen Unterschieden zu regieren. Und wenn man sich als Premierminister so hohe Ziele setzt, dann kann man sie nur verfehlen.“
Wahl in Kanada war strategischer Fehler
Trudeau scheint daraus tatsächlich gelernt zu haben. War er in seiner ersten Amtszeit noch sehr auf seine Rolle als Premier gewordener Kompromiss fixiert, macht er jetzt tatsächlich ambitionierte, transparent durchgerechnete Politik – vor allem was sein Klimaprogramm angeht. Das wird von führenden Umweltforschern und sogar von kanadischen Grünen als besser als das ihrer eigenen Partei gelobt. Trudeau hat einen kontinuierlich auf etwa 115 Euro pro Tonne steigenden CO2-Preis eingeführt. Der harte Deckel für Treibhausgas-Produktion wird auch bald kommen. Für ein Land, das so von seinen (klimaschädlichen) Rohstoffen abhängig ist wie Kanada und wo der Bund vergleichsweise wenig Macht über seine Provinzen habe, sei das schon beeindruckend, sagt Prest.
Ähnliches gilt auch für die Corona-Politik. Kanada war bis vor kurzem das Land mit der höchsten Impfquote in der westlichen Welt. Ins Flugzeug darf man nur noch doppelt geimpft. Krankenschwestern, Polizisten, generell Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes müssen geimpft sein. Vor kurzem schmiss der Gouverneur von Ontario einen gewählten Vertreter aus der Partei, weil dieser die Impfung verweigerte. In der Pandemie-Politik schaffte Trudeau das, was er immer wollte und nie richtig schaffe – das ganze Land hinter sich zu vereinigen. Doch mit seinem strategischen Fehler, die Wahl auszurufen, könnte er diese Errungenschaft selbst niederreißen.