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Bibi Kreuzberg

Lisa zaubert normalerweise nur in ihrer Wohnung in einem Berliner Vorort. Auf ihrem DVD-Regal hat sie einen kleinen Altar aufgebaut: Tarotkarten, Kupferkessel, Räucherstäbchen. Davor meditiert sie. Manchmal zieht sie einen Ritualkreis, den sie mit Rauch reinigt. „Meine Katze spürt diese Magie auch. Wenn ich mich konzentriere, verlässt sie jedes Mal den Kreis.“ Wenn Lisa weiß, was sie will, teilt sie dem Universum mit einem Zauberspruch mit, dass gleich ein Wunsch kommen wird. Die Sprüche könne man im Internet finden oder einfach eigene erfinden. Dann konzentriert sich Lisa und denkt ganz fest an ihren Wunsch. Irgendwann wird er sich erfüllen. Morgen, nächste Woche oder in drei Monaten. 


HEUTE IST DIE 31-Jährige nicht zu Hause. Zwei Kreuzungen vom Berliner Fernsehturm entfernt trifft sich einmal im Jahr eine Art Zusammenschluss von Hexen, Druiden, Schamanen und Germanen, kurz Heiden. Sie nennen sich eine „Pagane Gemeinschaft“. Lisas Gruppe heißt „Bärenwald“ und ist eine Untergruppe eines Druidenordens namens OBOD. Der Veranstaltungsort, ein Bungalow mit abblätternder lila Farbe, von Bäumen umgeben, sticht aus den grauen Plattenbauten genauso hervor wie die Kuttenträger, die sich vor dem Eingang rauchend langweilen. Sie sind eine Stunde zu früh da. 


In den umliegenden Fenstern hängen Schaulustige, die auf die rauchenden Fremden hinabschauen. Wenn sich die Blicke treffen, ducken sich die überkämmten Glatzen und auftoupierten Frisuren hinter ihre Fensterbänke. Hoffentlich hat mich dieser komische bärtige Freak nicht gesehen, sagen ihre Gesichter, als sie sich langsam wieder hochziehen, um ja nichts zu verpassen. 


Doch der komische Freak hat sie gesehen. Er zieht mit einem Grinsen ein letztes Mal an seiner Zigarette, rührt mit dem Stummel im Aschenbecher, der vorm Eingang steht, als wolle er eine Fackel löschen, und drückt sich an den anderen vorbei in den Hof hinter dem Bungalow. 


Er grüßt kurz Lisa, die sich dort mit anderen Besuchern unterhält. Lisa trägt ein perlenbesticktes schwarzes Kleid. Es hebt ihre weichen Gesichtszüge hervor – keine Warzen, nicht mal Falten. Ihr Ritual beginnt um fünf Uhr. Sie ist furchtbar nervös. Sie hat Angst, ihren Text zu vergessen. Daher ist sie froh, dass sie den ganzen Nachmittag am Buffett eingeteilt ist. Selbstgemachten Kaffee und Kuchen zu verteilen, helfe gegen die Nervosität, die sich seit Wochen in ihr aufgestaut hat, sagt die studierte Historikerin. 


„ICH BIN SCHON ein Leben lang Außenseiter“, sagt Lisa. Die 31-Jährige ist Hexe, seit sie ein Teenager ist. Zwischenzeitlich war sie Cosplayerin und verkleidete sich wie eine japanische Comicfigur. Jetzt ist sie Druidin in Ausbildung. Aber Hexe war sie schon immer. Das hat sie sich unter ihre Haut stechen lassen: drei Monde, für jeden sichtbar auf ihrem Unterarm. Lisa ist geübt darin, sich anschauen zu lassen, auch wenn sie „mittlerweile fast normal aussieht“. Allerdings versteckt sie nicht, dass sie zu den Paganen gehört: „Die Menschen wissen gar nicht, wie wir sind. So entstehen viele Vorurteile.“ Auf ihrem Blog versucht sie, aufzuklären. Es gehe um Liebe, Natur und auch ein bisschen Magie. Je mehr Menschen davon wüssten, desto mehr werde man akzeptiert.


16 Gruppen sind an diesem Tag in den lila Bungalow gekommen. Die Sonne brennt vom Himmel, es hat seit Wochen nicht geregnet. Plastikpavillons ziehen sich lückenlos am Zaun des Hinterhofs entlang. Illuminaten schwitzen neben Druiden, Hexen neben Tarotkartenlegern in ihren durchgesessenen Campingstühlen. 


EINE FRAU MALT Henna-Tattoos. Garantiert ohne Chemie, steht auf dem einlaminierten Verkaufsschild. Ein Hexenladen verkauft Ritualstöcke. Es gibt Info-Broschüren und Übersichtskarten, ebenfalls laminiert. Hexenhut oder Druidenrobe sieht man höchstens bei Besuchern. T-Shirt mit Deadpool auf einem rosa Einhorn oder weites Leinenhemd – die Menschen sind meist schwarz angezogen, aber ausgefallen. Hier gibt es keine Kleiderordnung. Es sind hauptsächlich Frauen da, Frauen mit Kind und Frauen, die einmal Männer waren. Es wird geherzt, umarmt und gelacht. Ein Artikel in der Lokalzeitung am nächsten Tag ließe sich aus dem Floskelwerkzeugkasten zusammenschustern: Es lud zum andächtig Mitwippen ein. Für das leibliche Wohl war gesorgt.


WIE SO VIELE hatte die Magie Lisa in ihrer Jugend angezogen. Das Hexentum stand für unendliche Möglichkeiten – keine Vorschriften, keine Grenzen und keine Abhängigkeit von Männern. „Es war auch cool, anders zu sein“, sagt Lisa. Von ihrer Mutter bekam sie Bücher geschenkt. Von Gleichaltrigen wurde sie gemobbt. Seitdem weiß Lisa, dass Magie funktioniert und welchen Schaden sie anrichten kann. Was genau passiert ist, will sie niemandem verraten. Niemals.


Deshalb hat sie erst wenige Zaubersprüche benutzt. Nur einen Geldzauber hier und da. Sie möchte ihr Glück nicht herausfordern. „Jeder kann Magie erlernen. Man muss sich nur darauf einlassen.“ Die Magie sei in jedem von uns und der Natur um uns. Das bedeute nicht, dass Katzen schweben könnten. „Manche nennen es ,beten‘, manche ,Ziele visualisieren‘. Ich nenne es ,Magie‘.“


Man muss im Reinen mit sich sein, um Magie richtig anzuwenden, das ist der erste Teil ihrer Druidenausbildung, erklärt Lisa. Die Gruppe unterstützt jeden bei jedem Schritt, man ist füreinander da. So etwas schweißt zusammen. „Je kaputter man ist, desto länger dauert die Ausbildung. Viele brauchen Jahre und zusätzlich psychologische Hilfe.“ Zurzeit arbeitet Lisa ihre Kindheit auf. Sie weint deswegen häufig. In ihrem Leben hat sie viele Stücke ihrer Seele zurückgelassen, sagt sie. „Die hole ich mir jetzt wieder.“ 


Ob sie dafür extra Druidin werden musste? „Nein, das kann man auch für sich alleine lösen. Aber das ist mein Weg und den brauche ich jetzt.“


KRRRGH. Lautsprecher-Rückkopplung. Kollektives Aufstöhnen. „Durchsage: Drinnen wird ein VGA-Kabel für einen Laptop gesucht. Der Beamer funktioniert sonst nicht.“ Aus einer Traube von lachenden, dunkel gekleideten Personen mit bunten Kaffeetassen und Kuchen auf Papptellern löst sich ein Besucher. Er kramt in seinem Rucksack und läuft in den Bungalow mit der abblätternden lila Farbe. 

Dort verteilt Lisa Kaffee und Kuchen aus bunten Tupperwaren. Es gibt einen Ritualraum, zwei Vortragsräume und eine Küche, in der jeder sein Geschirr in die Spülmaschine einräumt. An den Türen hängen Ablaufpläne, einlaminiert, an deren Existenz fünf Minuten vor jeder vollen Stunde unter kollektivem Aufstöhnen erinnert wird. Punkt zwei Uhr blasen draußen zwei Leute in Hörner. Ein Riese mit Pferdeschwanz, Fell um die Schultern und Tierschädel als Gürtelschnalle dreht sich zu seinem Freund in Jeans und T-Shirt um: „Wollen wir vor dem Ritual noch eine rauchen?“


Auf der freien Stelle zwischen Pavillons und Bungalow ist ein Kreis aus Bänken und Stühlen aufgebaut. Im Zentrum steht ein Altartisch mit Trinkhörnern, Metflaschen, einem Hammer und einer Holzstatue. Daneben brennt ein Lagerfeuer. Ein Rentnerpaar schlägt auf eine riesige Trommel ein. Die Frau singt und dirigiert ihren Partner mit dem Finger. Keiner singt mit. Eine Frau mit Bauchtasche stopft sich heimlich noch Kuchen in den Mund. „Wir heißen euch Willkommen. Seid hier, seid hier, seid hier“, singt die Frau so monoton, als hätte sie sich die Melodie aus Techno-Clubs abgeschaut.


Die Trommeln verstummen. Eine Frau tritt in die Mitte des Kreises. Auf der Stirn ist ein schwarzer Halbkreis tätowiert, ähnlich einer Schale. Ihr Oberteil ist aus braunen Leinen, ihr Rock ein lila Pali-Schal. „Thor. Hüter von Midgard. Freund der Menschen. Schütze uns vor den Flammen aus Muspellsheim.“ Sie spricht ruhig und bestimmt. Jede Himmelsrichtung soll Thor beschützen. „Um uns herum, Midgard. In uns, Midgard“, endet sie und schleicht zurück in den Kreis. 


In der Schöpfungsgeschichte der nordischen Mythologie ist Midgard die Welt, Muspellsheim ein Land aus Feuer und Verderben in deren Süden. Den Gegenpol bildet das eisige und dunkle Niflheim im Norden. „Heil Thor!“, schreit die Frau. „Heil Thor!“, antwortet die Menge. 


EINE GRAUHAARIGE Frau füllt ein Trinkhorn mit Met. Fair produziert, von einer Berliner Firma, versichert sie. Sie hat auch noch ein kleineres Horn mit einer alkohol freien Alternative. „Wir sind heute so viele verschiedene Menschen. Jeder darf trinken und dabei sagen, wem er danken möchte“, erklärt sie und reicht das Horn weiter. Eine junge Frau dankt allen, die zu ihr gestanden haben. Eine andere Frau möchte Regen. Wiederum eine andere dankt den Geistern. Ein Mann dankt Odin.


„MENSCHEN TRENNT heute so viel. Doch haben wir auch so viel gemeinsam“, sagt Mara, die Sprecherin der Paganen Gemeinschaft. Diese will in Deutschland als Religion anerkannt werden. In Großbritannien ist das bereits so. Monotheistische Religionen zeichnen sich nur dadurch aus, dass Leute ausgeschlossen werden, die anders sind. Der Paganismus sei das komplette Gegenteil – eine Gemeinschaft, in der jeder seinen Glauben so leben darf, wie er will. Deshalb ist Mara, direkt nachdem sie Theologie studiert hat, aus der Kirche ausgetreten. Seitdem kämpft sie für die Außenseiter. „Wir dürfen so sein, wie wir wollen. Wir müssen uns nicht verstecken. Wir müssen nicht allein sein“, predigt sie in ihrer schwarz-grünen Kutte und blickt in die Gesichter ihrer Mitstreiter.


Lisa ist gerne anders. „Normal? Pfft. Das bedeutet für mich, der Norm zu entsprechen. Das tut niemand von uns“, prustet es aus ihr heraus. Dabei gab es bereits eine Zeit, in der sie der Norm entsprochen hätte. In einer Zeit, bevor sich das Christentum in Europa ausbreitete. Druiden oder Schamanen waren damals Frauen und Männer, die bei Geburten mithalfen oder mit Kräutern Krankheiten zu heilen versuchten. Das Wissen gaben sie über Generationen mündlich weiter. Deshalb sind heute nur noch wenige Traditionen erhalten. Der lange Prozess des Hasses begann um das 11. Jahrhundert, sagt Lisa. „Es gab keine Ärzte. Nur Mönche durften damals heilen.“ Die aber waren auf wenige Klöster verteilt und die ärmeren Menschen hatten keine Pferde oder Kraft für die oft tagelangen Reisen.


IN IHRER VERZWEIFLUNG wandten sich die Kranken deshalb an Häretiker. Das waren Menschen, die die Kräuterkunde der Schamanen und Druiden praktizierten. „Die Kirche hat das als Auflehnung gegen sich gesehen“, sagt Lisa. Danach begann, was Historiker den größten gezielten Massenmord einer Gesellschaftsgruppe nach dem Holocaust nennen: Die Inquisition beherrschte das Land und verbreitete Schauergeschichten im ungebildeten Volk. Die vielen verschiedenen Häretiker wurden nach einiger Zeit in einen Topf geworfen und „Hexen“ genannt. 


Hexen könnten das Wetter verzaubern, Hexen könnten Menschen verfluchen, Hexen könnten den Teufel beschwören. 25.000 Menschen wurden alleine in Deutschland hingerichtet, weil sie Hexen gewesen sein sollen. Die letzte, Anna Schwegelin, wurde 1775 in Kempten zum Tode verurteilt. Sie starb im Gefängnis, noch bevor sie getötet werden konnte. „Die Kirche hat einen guten Job gemacht“, sagt Lisa und zwingt sich ein Lächeln auf. Bis heute müssten Menschen Konsequenzen fürchten, wenn sie offen pagan lebten. Heute sei das Mittel die Ausgrenzung, gesellschaftlich oder im Job. Lisa ist deshalb nur eine von dreien in der Versammlung, die in der Öffentlichkeit über Paganismus sprechen. 


AN DIESEM NACHMITTAG hinter dem lila Bungalow zaubert niemand. Die Menschen singen gemeinsam, beten gemeinsam, trinken gemeinsam. Als gäbe es einen universalen Mute-Button – wie Christen in der Kirche. „Logisch“, sagt Lisa. „Die Christen haben damals viel von uns übernommen, um sich so schnell wie möglich auszubreiten. Menschen mögen keine Veränderung.“ Auch Weihnachten zum Beispiel. Das war ursprünglich die heidnische Wintersonnenwende, plus eben drei Tage. 


KRRRGH. Lautsprecher-Rückkopplung. Kollek tives Aufstöhnen. Schon wieder. Es ist fünf vor fünf. Lisa spickt noch schnell auf ihren Text. Ihre sechsköpfige Gruppe will die sieben Gaben des Druidentums verschenken. Philosophie, Heilung, Reise, Potenzial und Magie. Für die Verbindungen zur Natur und zu anderen Realitäten ist Lisa zuständig. In sich gekehrt stehen sie im Kreis. Sie verteilen Frieden. Jeder Besucher bekommt sieben kleine Steine, Symbole für die jeweiligen Gaben. Zum Schluss nehmen sich alle an den Händen. Der Schwur der Druiden. Sie schließen ihre Augen.


„We swear by peace and love to stand, 

heart to heart and hand in hand, 

mark oh Spirit and hear us now, 

confirming this our sacret vow.“


Lisa tritt aus dem Kreis. Ihre Gruppe strahlt, Lisa strahlt mit ihr. Gemeinsam haben sie es geschafft. Die Anspannung der letzten Wochen ist komplett weg. Lisa musste nicht mal ein dutzend Sätze sagen, die aber waren fehlerlos. Während sie über die Wichtigkeit von Natur gesprochen hat, hat ein Holzfäller auf dem Nachbargrundstück einen Baum umgesägt. Doch Lisa hat gegen den Lärm angekämpft. Sie wurde verstanden. Vielleicht passiert das auch bald außerhalb des Geländes hinter dem lila Bungalow.