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"Man lernt, mit einer Gebrochenheit zu leben"

© dpa

Vor 40 Jahren endete mit dem Tod Mao Zedong in China die "Große Proletarische Kulturrevolution". Zehn Jahre Unterdrückung, Willkür und Terror, mit Millionen Opfern. Wie geht das Land heute mit dem historischen Erbe um? Ein Gespräch mit Kristin Shi-Kupfer vom Mercator Institut für China Studien.


heute.de: Frau Shi-Kupfer, wird der Kulturrevolution an diesem Jahrestag in China in irgendeiner Form gedacht?

Dr. Kristin Shi-Kupfer, 41 Jahre alt, ist Sinologin und Politikwissenschaftlerin. Seit drei Jahren leitet sie den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien beim Mercator Institut für China Studien (MERICS) in Berlin.

Kristin Shi-Kupfer: Die chinesische Führung hat ein großes Interesse daran, diesen Jahrestag einfach verstreichen zu lassen und Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Interessanterweise erschien Ende März ein Artikel in der parteistaatlichen Zeitung Global Times, in dem deutlich wurde, wie sehr das Thema das Land beschäftigt. Der unter Pseudonym verfasste Artikel beschreibt zwei gegensätzliche Positionen bezüglich der Kulturrevolution, die in der Öffentlichkeit aktuell kursieren würden. Die einen riefen nach einer Neubewertung, die anderen betrachteten die Geschehnisse eher nostalgisch. Beides sei abzulehnen. Das war tatsächlich so eine Art Warnung im Vorfeld des Jahrestages, nach dem Motto: Wehe, da kommt was.

heute.de: Wie geht die chinesische Führung heute mit dem Erbe Maos um?

Shi-Kupfer: Die Kommunistische Partei verabschiedete 1981 ein zentrales Parteidokument mit dem etwas euphemistischen Titel "Über einige Fragen in unserer Parteigeschichte seit Gründung der VR China". Darin wurde relativ deutlich gesagt, dass das Jahrzehnt der Kulturrevolution China in eine große Katastrophe gestürzt habe. Mao Zedong wird dabei der Großteil der Verantwortung zugeschrieben. Gleichzeitig wird eine Gruppe von rund zehn Personen um Maos Ehefrau Jiang Qing aus Machtgier heraus eine Reihe von „konterrevolutionären" Straftaten angelastet.

heute.de: Welches Bild hat die Bevölkerung von Mao?

Shi-Kupfer: Nicht wenige Chinesen akzeptieren die offizielle Bewertung der Partei, dass Maos Handeln zu 70 Prozent gut, zu 30 Prozent schlecht gewesen sei. Viele betrachten ihn nicht - wie das bei uns oft der Fall ist - primär als Verbrecher oder als Initiator von grausamen politischen Kampagnen, sondern als Staatsgründer, der China 1949 als unabhängigen Staat begründet und zu einer akzeptierten Großmacht gemacht hat.

heute.de: Gibt es trotzdem Bestrebungen, die Geschichte aufarbeiten zu wollen?

Shi-Kupfer: Eine gesellschaftliche, selbst initiierte Aufarbeitung sucht die Führung zu unterbinden. Das ist in dem autoritären System Chinas nicht mehr möglich. Unmittelbar nach der Kulturrevolution erschienen zahlreiche literarische Erinnerungen als Teil einer "Narbenliteratur". Heute gibt es Dokumentarfilmer, die im ganzen Land unterwegs sind, um Opfer, aber auch Täter zu interviewen. Auch im Internet finden sich Spuren: Blogger, wie zum Beispiel eine chinesische Journalistin, die damals Rotgardistin war, schreibt seit Januar unzensiert über ihre Erfahrungen. Es ist dennoch kein Thema, über das zum Beispiel an Schulen oder Universitäten offen diskutiert wird.

heute.de: Möchten die jungen Chinesen mehr über die Zeit erfahren?

Shi-Kupfer: Der Großteil von ihnen interessiert sich nicht dafür. In vielen Familien wird das Kapitel der Geschichte kaum thematisiert, eher tabuisiert. Viele haben das Gefühl, dass Politik generell etwas Schmutziges ist. Da mischt man sich lieber nicht ein. Wenn man der Politik fernbleiben kann, dann tut man das. Man konzentriert sich, so gut es geht, auf das eigene Leben.

heute.de: Wie geht die Gesellschaft, in der Opfer und Täter oftmals noch immer Tür an Tür leben, mit der unaufgearbeiteten Geschichte um?

Shi-Kupfer: Die Menschen sind oft sehr gespalten. Die Linie zwischen Opfer und Täter ist auch im eigenen Herzen nicht immer klar zu ziehen. Viele haben gelernt, mit einer „Gebrochenheit" zu leben. Jenach dem, mit wem sie sprechen, betonen sie andere Dinge. Viele Chinesen sagen, China sei ein Land, in dem man verschiedene Masken aufzieht, je nach dem, in welchem Kontext man sich befindet. Es gibt eine Sehnsucht danach, einfach nur echt sein zu wollen, so, wie man ist. Das ist für viele offensichtlich nach wie vor sehr schwierig.

Das Interview führte Maria Ugoljew.

(VÖ 16.5.2016, www.heute.de)
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