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Wahlfahrt-Fazit: Im Vollkontakt mit den Frustrierten - SPIEGEL ONLINE

Deutschland vor der Wahl jenseits der politischen Ballungszentren erleben - als Wahlfahrt09 reisten wir, rund 20 junge Journalisten durch Deutschland. In 50 Tagen besuchten wir 20 Orte, parkten unser mobiles Journalistenbüro an zentralen Plätzen in Norden, Süden, Osten und Westen, besuchten Orte wie Eisenhüttenstadt, Konstanz, Leidingen, Duisburg-Marxloh.

Heute ist Wahltag, und es ist vielleicht eine Ironie des Schicksals, dass wir am Tag des Volkssouveräns im Schloss Hundisburg im Nichtwählerwahlkreis Börde residieren. Aus dem barocken Schlosspark ein Rückblick auf den Vollkontakt mit Deutschland und seinen Bewohnern:

Eine Szene Anfang September auf dem Heumarkt in Köln. Eine Hartz IV-Empfängerin humpelte über den Platz, vorbei an einem überdimensionalen SPD-Wahlwürfel. Frank-Walter Steinmeier hatte sich für den Abend angekündigt, noch war der Platz fast leer.

Die Volkspartei gab sich in Köln modern und interaktiv: Die Jusos hatten junge Frauen angestellt, die andere Frauen mit einem "Ich kann Aufsichtsrat"-Schild fotografierten. Die arbeitslose Frau konnte nach zwei Bandscheibenvorfällen nicht mehr arbeiten. Die ehemalige Fleischerin wollte sich Steinmeier nicht ansehen, denn die Politiker, sagte sie, "lügen doch alle".

"Wir dürfen das Ziel der Vollbeschäftigung nicht aufgeben", tönte dann Steinmeier am Abend auf dem Höhepunkt seiner Wahlrede. Es wirkte antrainiert, ein reiner Slogan. Selbst Stammwähler der Partei, die in einer Kneipe am Rand saßen, überzeugte das nicht.

In ganz Deutschland gibt es zurzeit 3,47 Millionen Arbeitslose, Tendenz steigend. Die Schaffung von Arbeitsplätzen steht in jedem Parteiprogramm - gemeinsam mit dem kleinen Bruder der Vollbeschäftigung, dem Mindestlohn. Menschen wie die Fleischerin trafen wir oft auf der Wahlfahrt: die sich von niemandem repräsentiert fühlen, die vieles verloren haben, die keine Perspektive mehr für sich sehen.

Viele reden sich in Rage, schimpfen auf Abzocker, Lügner, Verbrecher

In Wismar sind durch die Schließung der Wardan-Werft 1200 Menschen in Kurzarbeit. In Halle hat der Strukturwandel ganze Stadtteile entvölkert. Die Krise fanden wir sogar in wohlhabenden Kommunen wie Konstanz - dort waren in diesem Jahr die Campingplätze ausgebucht, weil viele Deutsche kein Geld mehr für den Auslandsurlaub haben. Selbst in Wiesbaden mit seiner hohen Millionärsdichte sind Arbeitslose auf den Straßen präsent - auch wenn sie wegen des öffentlichen Trinkverbots in den Seitenstraßen stehen.

Diese Beobachtungen waren zum Teil natürlich auch dem Konzept der Wahlfahrt09 geschuldet: Wir parkten an zentralen Plätzen der Stadt, arbeiteten dort an Biertischen unter freiem Himmel. Dort trafen wir vor allem Leute, die keinen Ort haben, an dem sie sein müssen: Arbeitslose, Rentner, Obdachlose. Ihre Probleme bekamen wir auf der Wahlfahrt09 besonders häufig mit. Viele waren unzufrieden: Sie bekämen zu wenig Rente, zu wenig Hartz IV, sie redeten sich in Rage, wurden laut, deuteten mit Zeigefingern auf uns, wenn sie die Politiker beschimpften, mal als Abzocker, mal als Lügner, mal als Verbrecher.

Das ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im Osten wie im Westen gleich. In Eisenhüttenstadt, wo seit der Wende viele Arbeitsplätze verlorengegangen sind, wird gerade für 630 Millionen Euro ein neues Papierwerk gebaut, gefördert mit Mitteln der EU. Doch die Investition erscheint wie ein Tropfen auf den heißen Stein: Gerade mal 600 neue Arbeitsplätze sollen entstehen.

Im niederfränkischen Hof leiden die Betriebe unter der Konkurrenz aus dem Osten, die noch gefördert wird - während hier im Westen, wo nichts zu fördern ist, das Problem der Arbeitslosigkeit viel stärker zu Tage tritt.

Und in Hof lässt sich die Arbeitslosigkeit noch nicht einmal mit dem Versagen des Sozialismus erklären. Aufschwung Ost ergibt Neid West, in Duisburg hingen zwischen den Wahlkampfplakaten von Linkspartei und SPD Schilder mit dem Slogan "Aufbau Duisburg statt Aufbau Ost". Unsere Reise macht deutlich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen und die Verwerfungen in der internationalen Arbeitsteilung viel weiter reichen, als es die Deutschen wahrhaben wollen.

Mag sein, dass Deutschland Exportweltmeister ist, dass eine zukünftige Bildungsoffensive oder der Ausbau regenerativer Energien und grüner Technologien zukünftige Generationen beschäftigen wird - aber Hunderttausende sind im Hightech-Land überflüssig geworden. Sie sitzen jetzt in den Problemecken, lungern vor dem Supermarkt herum, sammeln Flaschen und durchwühlen Mülleimer.

Ganz besonders leise erlebten wir die Frauen. Wir sprachen Passantinnen gezielt an, weil von selbst immer nur die Männer kamen. Sie sagten zwischen den Zeilen, dass sie in der Krise Besseres zu tun hätten als zu politisieren. Wer soll sich um Kinder und Haushalt kümmern, wenn die Männer auf den Straßen abhängen? Wie das Überleben sichern? Manch eine gestand, dass es ohne die Lebensmittelspenden von der Tafel nicht ginge.

Eine Bewegung der sozial Schwachen? Fehlanzeige

Doch es gibt auch Lichtblicke: Es kamen viele engagierte Menschen zum Wahlfahrt09-Stand. Sie arbeiten ehrenamtlich für Bürgerinitiativen, den städtischen Sicherheitsdienst in Görlitz oder als Sporttrainer im Wismarer Kanuverein. Menschen, die sich für konkrete Anliegen engagieren: Der Rentner, der sich für das deutsch-polnische Verhältnis in der Grenzstadt Görlitz-Zgorzelec einsetzt und gegen die NPD Gesicht zeigt; der Azubi, der in seiner Freizeit im Bürgerradio die Spitzenkandidaten des Landtags interviewt oder die Studenten vom Postkult e.V. in Halle-Glaucha, die mit einem Gemeinschaftsgarten gegen den Leerstand in ihrem Stadtteil ankämpfen und die Bürger dort wieder zusammenbringen wollen. Viele von ihnen sind Bildungsbürger, Rentner, Akademiker und Studenten.

Auf eine Bewegung der sozial Schwachen trafen wir aber nicht. Ein Lkw-Fahrer, den wir auf einem Rastplatz ansprachen, drückte es so aus: "Wir könnten ja mal demonstrieren gehen. Aber dafür geht es uns wohl noch nicht schlecht genug."

Nur einige Hartz-IV-Empfänger in Wiesbaden machen den Gegenangriff auf die öffentliche Wahrnehmung: Die "Initiative neue soziale Gerechtigkeit" plakatiert alle zwei Wochen die Stadt mit Schwarzweißpostern, auf denen sie von Schikanen, Demütigungen und rechtswidriger Behandlung von Hartz-IV-Empfängern sprechen und auf denen sie die Mitarbeiter zuständiger Behörden namentlich anprangern. Mehrheitsfähig sind sie mit ihrem umstrittenen Vorgehen aber nicht.

Schweigsam waren die Menschen in Sigmaringen: Wohl auch, weil die Bundeswehr im Ort ein sicherer Arbeitgeber ist, gibt es von den Menschen, die im Bundeswehrstandort leben, kaum Kritik am Einsatz in Afghanistan. Für viele junge Männer sind die Bonuszahlungen für Auslandseinsätze eine willkommene Einnahmequelle, auch wenn nur wenige wirklich davon überzeugt sind. Der Einsatz in Afghanistan ist ein Thema, das weder im Wahlkampf noch in unseren Gesprächen an vorderster Stelle stand. So war es auch mit anderen außenpolitischen Fragen, etwa wie Deutschland sich innerhalb Europas positioniert.

Der Konsens, "die schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen"

Aus der Perspektive der ausländischen Wahlbeobachter, die wir am Rande eines Wahlkampfauftritts von Gregor Gysi in Halle trafen, ist besonders die wichtigste Frage im Wahlkampf ausgeklammert worden: Wie die Wirtschaftskrise und das Arbeitslosenproblem eigentlich konkret gelöst werden sollen, sobald die Wahl vorbei ist. Der Franzose Jay Rowell wunderte sich: "Es müssen schmerzhafte Entscheidungen getroffen werden, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen." Offenbar gebe es einen Konsens, "diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen."

Auch sein holländischer Kollege Ton Nijhuis wunderte sich über den Wahlkampf: Wenn viele Menschen nicht daran glaubten, dass die Politik die Arbeitslosigkeit bekämpfen könne, werde das von den Wahlforschern als "Politikverdrossenheit" interpretiert: "Ich würde sagen, das ist Realismus erwachsener Bürger, die genau wissen, dass man viele Versprechungen aus dem Wahlkampf nicht einhalten kann."

Die politische Stimmung unter den Deutschen, das ist das Fazit der Wahlfahrt09, ist stark abhängig von der ganz persönlichen Lebenssituation der Menschen. Die Grünen wählen diejenigen, die unter Flugschneisen und in der Nähe des Atommüll-Zwischenlagers in Gorleben wohnen. Die FDP ist bei den Menschen, die wir auf der Straße getroffen haben, kaum eine Option. Nur eine Prognose wagen wir am Ende unserer Reise: Dass viele Menschen von dieser Wahl nichts erwarten - und deswegen gar nicht wählen gehen.


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